Nekrolog für unser Mitglied Wolfdietrich Hartung (1933–2025)

Prof. Dr. Wolfdietrich Hartung, MLS (1933-2025) (Foto: privat)

Die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V. nimmt mit tiefer Trauer Abschied von ihrem Mitglied Prof. Dr. Wolfdietrich Hartung, der am 21. November 2025 im Alter von 92 Jahren verstorben ist und über viele Jahrzehnte hinweg die deutsche Sprachwissenschaft und unsere Gemeinschaft geprägt hat.

Wolfdietrich Hartung wurde am 25. Februar 1933 geboren. Er kam im Alter von zehn Jahren ins Graue Kloster, das älteste Gymnasium von Berlin, wo er zu den besten Schülern zählte. Obwohl seine Kindheit und Jugend von den Wirren des Krieges geprägt waren, entwickelte er früh ein ausgeprägtes Interesse an Sprache und Literatur. Unmittelbar nach dem Abitur arbeitete er eine kurze Zeit im Verlag „Volk und Wissen“ und erlebte dort aus einer ganz anderen Perspektive, was für die Arbeit an Sprache wichtig ist. Er nahm das Studium der Germanistik und Linguistik an der Humboldt-Universität zu Berlin auf, wo er auch den Sprachwissenschaftler und Volkskundler Wolfgang Steinitz kennenlernte. Bereits während seiner Studienzeit arbeitete er am Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache mit, einem Projekt, das ihn nachhaltig prägte und seine spätere wissenschaftliche Laufbahn beeinflusste. In der Mitarbeit an diesem Wörterbuch, das unter der Leitung von Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz entstand und auch heute noch als Vorbild einsprachiger Wörterbücher gilt, brachte Wolfdietrich Hartung erstmalig seine hervorragenden Kenntnisse linguistischer Methoden zur Anwendung.

Wie er selbst sagte, war ihm aber die Grammatik schon immer wichtiger als der Wortschatz. Mit seiner Dissertation und frühen Publikationen legte er den Grundstein für seine Reputation als Linguist, der die theoretischen Konzepte der internationalen Sprachwissenschaft – insbesondere die von Noam Chomsky – in die deutsche Forschung einführte. Er hatte aber auch die Vermittlung der deutschen Sprache im Blick, was ebenfalls seine theoretischen Konzepte beeinflusste. Seine wissenschaftliche Arbeit war von methodischer Strenge und Innovationskraft geprägt. Früh setzte er sich mit den neuen grammatischen Konzepten auseinander und dokumentierte diese in seiner Schrift Die zusammengesetzten Sätze des Deutschen (1964).

Mit der pragmatischen Wende der 1970er Jahre baute Wolfdietrich Hartung am Zentralinstitut für Sprachwissenschaft einen Bereich auf, der die gesellschaftliche Dimension von Sprache und Kommunikation in den Mittelpunkt stellte und Disziplinen wie Soziolinguistik, Stilistik, Gesprächsanalyse und Textorganisation erschloss. Er gab wichtige Bücher zur sprachlichen Kommunikation und Gesellschaft und zu Normen in der sprachlichen Kommunikation heraus und zunehmend rückten die Differenziertheit der Sprache und die Varianz des Deutschen in das Blickfeld seines Interesses. Das unter seiner Leitung erarbeitete Buch Sprachliche Kommunikation und Gesellschaft (1974), das als erster Band in der gleichfalls von ihm verantworteten Reihe Sprache und Gesellschaft erschien, bezog wohl als erste sprachwissenschaftliche Arbeit Medialität und Kulturalität in die Normvorstellungen ein.

Mit der Auflösung der Akademie fand auch das Zentralinstitut für Sprachwissenschaft sein Ende. 1990 hatte Wolfdietrich Hartung in der Zeitschrift für Germanistik einen wegweisenden Artikel unter dem Titel „Einheitlichkeit und Differenziertheit der deutschen Sprache. Bemerkungen zur Diskussion um die nationalen Varianten“ veröffentlicht. Zehn Jahre zuvor hatte er diese Zeitschrift, die nicht nur die Wende überlebt hat, sondern bis heute (wenn auch weitgehend literaturwissenschaftlich orientiert) existiert, als Mitglied des Herausgeberkollegiums mitbegründet

Nachdem ihn Werner Neumann vorgeschlagen hatte, war Wolfdietrich Hartung 1996 Mitglied der Leibniz-Sozietät geworden. Wie mir Wolfdietrich Hartung selbst sagte, war er bei seiner Zuwahl in die Sozietät froh und dankbar, wieder ein Betätigungsfeld gefunden zu haben. Jedoch auch in umgekehrter Richtung ist die Leibniz-Sozietät ihm zu großem Dank verpflichtet. Er verantwortete über viele Jahre die Sitzungsberichte (Bände 51 bis 132) und trug maßgeblich zur Einführung und Betreuung der Internetzeitschrift „Leibniz Online“ bei, die er von 2005 bis 2017 redigierte. Damit schuf er eine Plattform, die den wissenschaftlichen Austausch unserer Sozietät nachhaltig stärkte und die Reichweite unserer Publikationen erheblich vergrößerte.

Doch seine wissenschaftliche Arbeit während seiner Zugehörigkeit zur Leibniz-Sozietät sei auch nicht vergessen. Er war als Sprachwissenschaftler nicht jemand, der einfach die lästige und nach der Auffassung einiger nachrangige Arbeit der Korrektur und Gestaltung von Texten übernommen hat, während sich andere den wichtigen Themen in Natur und Gesellschaft zugewandt haben, sondern er hat selbst auch gut reflektierte und innovative Ergebnisse seiner Forschung vorgelegt. Nicht unbedingt im Hinblick auf den Entwicklungsstand der Sprachwissenschaft überhaupt, aber auf jeden Fall für ihre Wahrnehmung innerhalb der Leibniz-Sozietät ist es wichtig, dass Wolfdietrich Hartung der Auffassung der Sprache als Widerspiegelung, als Abbild der Wirklichkeit widersprochen hat. Hartung faszinierte die gesellschaftliche Dimension von Sprache und Kommunikation. Er initiierte Kolloquien zu Fragen der kulturellen Verschiedenheit und des sprachlichen Ost-West-Problems und förderte den Dialog über Sprache als Medium gesellschaftlicher Verständigung. Seine wissenschaftliche Strenge verband er mit menschlicher Wärme und Kollegialität.

Auf dem Ehrenkolloquium anlässlich des 90. Geburtstags von Wolfdietrich Hartung betonte Prof. Norbert Dittmar (FU Berlin), der ihn seit vielen Jahren kannte, Hartungs Fähigkeit, innovative Ergebnisse vorzulegen und zugleich die gesellschaftliche Dimension der Sprache nie aus dem Blick zu verlieren. Im Anschluss sprach Prof. Clemens Knobloch (Universität Siegen) über die Begriffsgeschichte von „Kommunikation“ und stellte die Rolle Hartungs im Kontext der frühen 1970er Jahre heraus, als Kommunikation zum Leitbegriff der Humanwissenschaften wurde.

Wolfdietrich Hartung hat drei Gesellschaftssysteme durchlebt und ebenso viele Paradigmenwechsel in der Sprachwissenschaft erfahren. Trotz dieser Umbrüche blieb er seiner Grundhaltung treu: Orientierung an der sprachlichen Realität, Exaktheit des Arbeitens und die gesellschaftliche Verantwortung der Sprache.

Die Leibniz-Sozietät verneigt sich vor einem Mitglied, das nicht nur Forscher und Herausgeber, sondern auch Mentor und Freund war. Sein Werk bleibt lebendig in den Wörterbüchern, Sammelbänden und Sitzungsberichten, die Generationen von Sprachwissenschaftlern prägen. Wir werden Wolfdietrich Hartung ein ehrendes Andenken bewahren.

Gerda Haßler