Nekrolog auf unser Mitglied Prof. Dr. Winfried Engler

Die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V. trauert um ihr Mitglied,
den Romanisten

Prof. Dr. Winfried Engler,

der am 22. März 2018 im Alter von 82 Jahren verstorben ist.

Winfried Engler; Foto: Tagesspiegel; PROMO

Die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin trauert um Professor Dr. Winfried Engler, Mitglied der Sozietät seit 1995, der am 22. März dieses Jahres im Alter von 82 Jahren in Berlin-Frohnau verstarb. Wir gedenken eines Wissenschaftlers, der sich im In- und Ausland bleibende Verdienste auf dem Fachgebiet der Romanischen Philologie, insbesondere der französischen Literatur erworben hat.

Geboren wurde er am 17. Dezember 1935 in der baden-württembergischen Kleinstadt Saulgau. Die Nachbarschaft zur französischen Grenze und damit die Nähe zur Sprache und Kultur des westlichen Nachbarn Deutschlands hatte seit seiner Kindheit und Jugend entscheidenden Einfluss auf seine intellektuelle Entwicklung. Damit hängt auch sein früher Entschluss zusammen, nach erfolgreichem Besuch des Gymnasiums von 1955-1960 Romanische Philologie mit dem Schwerpunkt Französische Sprache und Literatur sowie Geschichte und Philosophie an den Universitäten Tübingen, München und Paris Romanistik, Geschichte und Philosophie zu studieren. 1960 wurde er an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen zum Dr. phil. promoviert. Nach mehreren Jahren als wissenschaftlicher Assistent und Akademischer Rat an der Johann-Gutenberg-Universität Mainz erhielt er 1968 einen Ruf als Extraordinarius an die Pädagogische Hochschule in Westberlin, an der er 1971 zum ordentlicher Professor für Französische Sprache und Literatur ernannt wurde. 1980 übernahm er den Lehrstuhl und bald darauf das Direktorat des Instituts für Romanische Philologie der Freien Universität Berlin, wo selbst er bis zu seiner Emeritierung 2004 als Prodekan und Dekan der Fakultät wirkte.

Neben seiner akademischen Lehrtätigkeit erarbeitete und publizierte er eine Reihe Standardwerke zu seinem Fachgebiet, der französischen Literaturgeschichte, insonderheit der Geschichte des Romans als Geschichte einer literarischen Gattung, darunter Der französische Roman von 1800 bis zur Gegenwart (1965) und Geschichte des französischen Romans von den Anfängen bis Marcel Proust (1987).

Doch eine bloße Aufzählung und Analyse seiner literaturkritischen Werke würde dem Wirken Winfried Englers höchst unvollkommen gerecht. Er verband wissenschaftlich-theoretischen Anspruch mit dem literaturpädagogischen Anliegen, die französische Literatur unter Rückgriff auf sein eigenes enzyklopädisches Wissen vom mittelalterlichen Rolandslied bis zum postmodernen Nouveau roman einem breiten deutschen Publikum nahezubringen: aus diesem Grunde wählte er für sich die seltene Fachbezeichnung „Lexikograph“, weil er in alphabetischer Reihenfolge Frankreichs Literatur den Deutschen enzyklopädisch präsentieren wollte, so im Lexikon der Französischen Literatur (3. Aufl. 1994) und im Reclam-Bändchen Französische Literatur im Überblick (2000). Er edierte ferner gemeinsam mit Rita Schober 1995 den Colloquiumsband über die internationale Zola-Rezeption „100 Jahre Rougon-Macquart“.

Sein zweites großes Anliegen war sowohl politischer wie kulturpolitischer und ideologischer Natur, die einstige  „Erbfeindschaft“ zwischen Deutschen und Franzosen in Beziehungen  gegenseitiger Wertschätzung, Freundschaft und Zusammenarbeit umzuwandeln. Er übernahm in diesem Sinne viele Ehrenämter und Funktionen: seit 1989 war er Beauftragter des Regierenden Bürgermeisters von Berlin für die Städtepartnerschaft mit Paris, ferner langjähriger Präsident der Deutsch-Französischen Gesellschaft Berlin (West). Ab 1995 vertrat er die ARD im Beirat des deutsch-französischen Kultursenders ARTE. Seine hohen Auszeichnungen erhielt er nicht so sehr als Literaturforscher als vielmehr für seine Verdienste als Mittler zwischen beiden Völkern.  Er wurde 1998 vom Präsidenten Frankreichs zum Offizier der Ehrenlegion ernannt und 1999 mit dem Französischen Verdienstorden ausgezeichnet. Auch wurde er Offizier des Ordre des Palmes Académiques. 2003 verlieh ihm Präsident Weizsäcker das Verdienstkreuz Erster Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik für sein Engagement auf dem Gebiet der deutsch-französischen Beziehungen.

Winfried Engler, der mit seiner Wahl zum Mitglied der LS bereits im Jahre 1995 zu ihren „dienstältesten“ Mitgliedern gehörte, hat in der Sozietät eine nicht sehr umfangreiche, aber gewichtige Reihe von Beiträgen gehalten, so in der Sozial- und Geisteswissenschaftlichen Klasse sein theoretisch fundiertes und radikal kritisches Referat mit dem provozierenden und hervorragend charakterisierenden Titel „transitive oder intransitive Zeichen  – Theorien postmoderner Tiefenlosigkeit“  über den inhalts- und geschichtsleeren Formalismus und Strukturalismus von Moderne und Postmoderne ( Bd. 107 der Sitzungsberichte).

Wichtig war ferner u.a. sein geschichtswissenschaftliches Doppelreferat mit Rita Schober über die Hintergründe der Pariser Bartolomäusnacht. Interessant auch aus heutiger Perspektive sein Essay über die Beziehungen Romantik-Naturalismus mit dem Wiederaufgreifen von Zolas Frage nach dem Sinn der Romantik-Rezeption (zum 80. Geburtstag von Rita Schober erschienen in den „Abhandlungen“ 2009). Zu erwähnen wäre auch seine Moderation des Leibniz-Colloqiums zu Jeans-Jacques Rousseau sowie seine Trauerrede zum Begräbnis von Rita Schober, in der er ein Lebensbild dieser bedeutenden Wissenschaftlerin entwarf.

Mit dem Tod von Rita Schober und dem Ableben von Winfried Engler ist eine bis zu Victor Klemperer und Werner Krauss reichende großartige Traditionsreihe der französischen Literaturwissenschaft in der Leibniz-Sozietät bzw. Akademie der Wissenschaften endgültig abgerissen. So wird es schwierig, wenn nicht unmöglich sein, diesen traditionellen Altbestand in den heutigen für die Sozial- und Geisteswissenschaften ohnedies kritischen Zeiten zu erneuern.

Prof. Dr. Hans-Otto Dill