Bericht zur Sitzung des Arbeitskreises Gesellschaftsanalyse am 8.11.2024

M. Wark auf der Cover-Innenseite des Buches

Michael Thomas

Kurzbericht zur Sitzung des Arbeitskreises Gesellschaftsanalyse am 8.11. 2024

Gegenstand der Buchvorstellung und Diskussion war:

McKenzie Wark: Das Kapital ist tot. Kommt jetzt was Schlimmeres? Kritik einer politischen Ökonomie der Information (Merve Verlag 2021)

Angesichts der am Tag vor der Sitzung bekannten Wahlergebnisse aus den USA und dem Zerbrechen der Ampelkoalition in Deutschland schien es dem Moderator naheliegend, diese Diskussionsrunde zur Zeitanalyse mit der Frage im Buchtitel von Wark einzuleiten: „Kommt jetzt was Schlimmeres?“ Immerhin deuteten auch erste politische Stellungnahmen darauf hin, dass es zu einigen Erschütterungen politischer Verhältnisse und Beziehungen kommen könnte.

Diese Einleitung wurde zu einer kleinen kontroversen Auftaktrunde im Kreis der 14 Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Dieser ging eine kurze Vorstellung von Prof. Dr. Hans-Christoph Hobohm voraus, der den Themenvorschlag eingebracht und mit einem vorab zugestellten Textauszug und Thesenpapier vorbereitet hatte. Naheliegend erschient dem Arbeitskreisleiter für die Vorstellung vor allem der Hinweis auf das unlängst erschienene Buch von Hans-Christoph Hobohm zum Informationsverhalten (Berlin: de Gruyter, 2024, 444 S.). Denn mit diesem sind zentrale Aspekte von Information aufgearbeitet; vom Referenten wurden auch immer wieder fachspezifische Termini und Unterscheidungen (Information/Daten/Wissen/Weisheit etc.) erhellend in die Diskussion eingebracht. Zumal McKenzie Wark solche Termine und Unterscheidungen eher voraussetzt bzw. schlicht anwendet.

Entsprechend der Anlage des Buches von Wark, das weniger Information oder Informatik zum Gegenstand hat, sondern die mit diesen verbundenen gesellschaftlichen Entwicklungsprobleme, ging es vor allem um solche. Dazu machte Kollege Hobohm nochmals ergänzende und vertiefende Ausführungen zu seinem Thesenpapier. Diese dienten dann als Leitfaden für die Diskussion. Um es vorweg zusammenzufassen: Hatte Hobohm sein Leseinteresse mit einer „faszinierenden Behauptung“ von Wark begründet, so konnte diese Faszination durchaus überspringen; die Diskussion war lebendig und ertragreich.

Einige Eigenarten der Publikation bzw. Streitschrift lassen sich nicht völlig von der Persönlichkeit Warks, trennen, die sich als engagierte Intellektuelle ebenso einbringt wie als Transperson. Auch das beeinflusste die unterschiedliche Aufnahme, die bei aller Faszination über Darstellungsweise und einzelne Fragen zugleich auch einige Enttäuschung hinsichtlich tatsächlich erbrachter Begründungen und Argumente zeigte. Insofern werden nachfolgend nur einige Schwerpunkte der Diskussion aufgeführt, die gerade auch für die weitere Debatte interessant sind. Auf die kontroversen Standpunkte dazu wird nicht detailliert eingegangen. Zweifellos lassen sich unterschiedliche Sichtweisen akzeptieren und kann es keine Gewichtung geben. Gerade so haben Buch wie dessen Vorstellung eben anregend in ein breites Themenfeld eingeführt, die zentralen Probleme markiert und weitere Anregungen gegeben. Zurückgreifen ließ sich auf einige vorangehende Diskussionen im Arbeitskreis (zu Philipp Staab, Andrea Komlosy oder Jeremy Rifkin). Andrea Komlosy konnte überraschenderweise diesmal selbst an der Diskussion vor Ort teilnehmen.

Zurückgreifen auf die drei Genannten ließ sich etwa für die übergreifende Frage, zu was für einer spezifischen gesellschaftlichen Entwicklungsetappe Analyse und Beschreibung der besonderen Ausprägung von Information verallgemeinert werden. Dass es sich um eine qualitativ spezifische Etappe handelt – Shoshana Zuboff spricht von dieser als „Informationszivilisation“ –, darin stimmen letztlich alle überein. McKenzie Wark bringt einige originelle Einsichten, dennoch greifen die der Genannten zum Teil tiefer und sind in der Diagnose schärfer. Beispielsweise eben auch Andrea Komlosy, die einige ihrer Erkenntnisse zur Rolle großer Konzerne, zur spezifischen Informationsvermarktung oder zur Aneignung unbezahlter Arbeit in diesem neuen Sektor nochmals begründen konnte. Auch damit zeigte sich: Im Unterschied zu McKenzie Wark, für die diese neue Technologie zugleich eine völlig neue Entwicklungsetappe nach dem Ende des Kapitalismus einläutet, ist eben für Komlosy (und Staab oder Rifkin) diese Entwicklungsetappe eine erhebliche Modifikation des Kapitalismus, nicht aber dessen Ablösung. Man könnte auch an die im Arbeitskreis diskutierte Nancy Fraser erinnern – die neuartigen Trends, in denen Wark eben das aufkommende Schlimmere sieht, zeigen die kannibalistische Tendenz des jetzt dominierenden Kapitalismus.

Während viele der thematischen Punkte bei Wark genau um diese zentrale Annahme kreisen – ihre Identifikation einer neuen Klassenrelation, ihre Aufhebung der scheinbar zwangsläufigen Dichotomie von Kapitalismus und Kommunismus oder ihre Historisierung von Marx – sind die angeführten Begründungen oder auch generell die erforderliche Argumentation oftmals weniger überzeugend. Es bleiben dann eher starke Behauptungen, denen man zustimmen kann oder eben nicht. Unstrittig ist allerdings, und das fand so auch übereinstimmend Ausdruck in der Diskussion, dass die Autorin immer wieder auf in der Tat neuartige und zum Teil ungelöste Probleme aufmerksam macht. Auch mit der Frage nach dem Ende des Kapitalismus, deren positive Beantwortung Wark zugleich mit einer somit auch möglichen Absage an den Kommunismus verbindet (sie sieht hier ein für kritische Analyse blockierendes Bedingungsverhältnis in dem Sinn: aus a) folgt notwendig b), verbindet sich eine interessante Akzentuierung auf Übergangsprozesse, Varianten und Hybride gesellschaftlicher Entwicklung. Dieser Forderung nach systematischer Analyse, statt nur immer wieder großen Schemata zu folgen, muss nicht widersprochen werden. Dahingehend lässt sich die Publikation auch als Aufschlag nehmen.

Ausführlicher, wenn auch nicht hinreichend, wurde die These vom Ende des Kapitalismus nochmals mit dem Beispiel der Trägergruppe der angeblich neuen Entwicklungsetappe diskutiert, den „Vektoralisten“. Für Wark sind das diejenigen, die sich die Informationsvektoren (d.h. immaterielle Infrastruktur und Nutzungsrechte) aneignen, im Gegensatz zu den „Hackern“, die im weitesten Sinn die Informationen liefern, eigentumslos und ausgebeutet sind. Insofern würden die „Vektoralisten“ die neue herrschende Klasse bilden, deren Macht auch die der bisherigen Kapitalisten übersteigt. Der angeeignete Mehrwert kommt aus den Informationsflüssen und den etwa via Internet oder/und Smartdevices abgeschöpften Kundendaten. Die neue Technologie hat zu einer vollständigen Abtrennung von der kapitalistischen Ökonomie geführt, was auch mit den in der Tat gewaltigen Gewinnmargen nicht nachvollziehbar ist. Die Charakterisierung der „Vektoralisten“ als völlig neue Klasse musste Erinnerungen an die Debatten zur sozialen Schicht der Intelligenz in den 1970er/1980er Jahren hervorrufen. Diese hatte mit der wissenschaftlich-technischen Revolution ihren besonderen „Auftritt“ und wurde gelegentlich auch zur „neuen Klasse“ gemacht, war soziologisch in der Tat schwer zu konzeptualisieren. Einige differenzierte Versuche zeigten allerdings auf, dass ein neuartiger Technologieschub zwar enorme weitere und zweifellos nicht nur traditionell klassenanalytische Erklärungen verlangt, deshalb aber nicht diese soziale Gruppe aus der kapitalistischen Formation herauslöst. Sie steht also insofern auch nicht für deren Ende. Das ist durchaus vergleichbar für das Phänomen der „Vektoralisten“. Die Position von McKenzie war ist doch zu stark auf die Technologie zentriert – für die alte Klassentheorie steht die Dampfmaschine, für die neue der Informationssektor.

Aber auch hier gibt es wieder einen faszinierenden Punkt und sehr anregende Überlegungen in der Publikation. Wark nennt ihren kritischen Umgang mit Marx und dem Marxismus „Détournement“ und markiert mit diesem Verfahren vor allem ihre Kritik am „gehobenen Marxismus“. Dieser verbleibe in seiner selbstgewissen Theorie und ewigen Wahrheit (so also auch dem ewigen Kapitalismus). Demgegenüber sei es erforderliche, sich die spröde Gegenwart wieder anzueignen, auch auf eine provozierende Art und Weise: der Marxismus müsse wieder „vulgär“ werden. Viele der angeführten Beispiele für sein solches Vorgehen sind überzeugend und lassen sich mit Spaß und Erkenntnisgewinn lesen. Mit Andrej Platonow oder Angela Davies verweist sie auf interessante Darstellungs- und Praxisformen. In der Tat sind das Wege, um die Verhältnisse doch „zum Tanzen“ zu bringen. Wenn man unter „vulgär“ eben auch den lebendigen und häufig weniger feinen Alltag der Beherrschten sieht, dann ist das genau wieder eine anregende und zeitgemäße Justierung für kritischen Denken und Handeln.

Einige andere Punkte wurden noch angesprochen; der Rückblick auf die Diskussion soll kein vollständiger Überblick sein. Interessante Ergänzungen macht zudem das Thesenpapier von Hans-Christoph Hobohm, welches ebenso vorliegt. So kann die Veranstaltung insgesamt als ein guter Schritt angehsehen werden in ein thematisches Feld, das ein Schwerpunkt auf dem für Ende des Jahres zum Thema „Zeitanalyse“ geplanten Workshop sein wird. Allen Beteiligten, vor allem dem Impulsgeber, Hans-Christoph Hobohm, ist zu danken.

Michael Thomas