Beitrag zu “60 Texte gegen 60 Jahre US-Blockade“ gegen die Insel Kuba am 27. Juni 2020 auf dem Pariser Platz am Brandenburger Tor, Berlin


Mitteilung von Hans-Otto Dill (MLS):

Die zwei Entdecker

(Beitrag zu “60 Texte gegen 60 Jahre US-Blockade“ gegen die Insel Kuba am 27. Juni 2020 auf dem Pariser Platz am Brandenburger Tor, Berlin, veranstaltet von der Freundschaftsgesellschaft Berlin-Kuba e.V. gemeinsam mit 60 Persönlichkeiten aus Kultur, Politik und Wissenschaft der BRD, die ihre Texte präsentierten.)

Wir stehen hier vor der US-Botschaft und fast neben Alexander von Humboldt bzw. dessen Statue am Ehrenhof der Berliner Humboldt-Universität. Sie trägt die Unterschrift “Dem zweiten Entdecker von Kuba. Die Universität von Havanna 1939” (AL SEGUNDO DESCUBRIDOR DE CUBA; LA UNIVERSIDAD DE LA HABANA 1939).

Wenn es einen zweiten Entdecker gibt, so auch einen ersten: Christoph Kolumbus. Doch worin unterscheiden sich beide?

Der erste entdeckte das “herrlichste Stück Land, was je ein menschliches Auge erblickt hat” – samt seinen Einwohnern, und er entdeckte sie als: potentielle Sklaven! Wie es in seinem Bericht an die spanischen Majestäten Isabel von Kastilien und Ferdinand von Aragón heißt: “Er, Kolumbus, könne so viel Gold, wie sie brauchen und so viel Sklaven, wie sie anfordern  mitbringen”. Es wäre ein Leichtes, sie alle dem Kaiser “nach Kastilien zu bringen oder auf den Inseln gefangen zu halten, denn mit 50 Mann werdet Ihr sie alle unterwerfen und sie zwingen zu tun, was Euch beliebt.” So sprach der erste Entdecker. Dieses war eine Mitteilung, die dem Kaiser sehr zu pass kam, da die hauptsächlichen Reichtumsfaktoren zu dieser Zeit sowohl der Besitz von Gold als auch der von Sklaven waren. Die Sklaverei war bereits ein wichtiger ökonomischer Faktor und eine gesellschaftliche Normalität zur Zeit der Erfindungen und Entdeckungen in Europa, also der westlichen Welt.

Mit 550 gefangenen Ureinwohnern an Bord stach Kolumbus von Kuba aus nach Spanien in See, die Hälfte von ihnen verstarb bei der Überfahrt, die Übriggebliebenen führte er dem Kaiser quasi als Mitbringsel oder Ansichtsexemplare vor, und empfahl sie als Sklaven: “Sie sind sanftmütig, man kann sie als fleißige Arbeitskräfte einsetzen.” Allerdings Gold in erhoffter Menge fanden die von ihm dazu beauftragten Indigenen nicht, worauf er ihnen zur Strafe die Hände abhacken ließ.

Nach Ausrottung der einheimischen Indios auf Kuba als Folge der ihnen aufgezwungenen Schwerstarbeit und der Ansteckung mit den aus Europa eingeschleppten Infektionskrankheiten wurden ersatzweise neue Sklaven heran geschafft, Afrikaner, die in ihrer Heimat wie von der Straße weggefangen und zwangsweise nach Kuba verschifft wurden.

Im Unterschied zu Kolumbus, diesem “ersten Entdecker” Amerikas, der das große Sklavenpotential der Neuen Welt entdeckt hatte, verurteilte der “zweite Entdecker” Alexander von Humboldt entschieden die Sklaverei und verbat sich, “Entdecker” genannt zu werden. Er identifizierte nämlich mit dem Begriff “Entdeckung” die Massaker der spanischen Eroberer unter den Eingeborenen und fügte unter implizitem Bezug auf die kolonialistische Praxis fast aller westeuropäischen Länder hinzu, an den Massakern unter den Indios “erkennt man die Ankunft der Europäer in der Neuen Welt”. Deshalb war für ihn die Bezeichnung “Entdeckung” Synonym für die “Neger”-Sklaverei auf Kuba. Das heißt: Humboldt entdeckte nicht die Sklaverei in Kuba an sich –  sondern entdeckte bzw. enthüllte sie als ein Kapitel schwerster Menschenrechtsverletzung. Allein schon die Zwangsverschiffung der Schwarzafrikaner von Afrika über England nach Kuba hat laut Humboldt mehreren Tausenden der letzteren das Leben gekostet. Das Gros dieser aus Afrika zwangsimportierten Sklaven wurde auf den von den weißen Kolonialherren angelegten Zuckerrohrplantagen mit Riesengewinn zu härtester Arbeit gezwungen. Diese dunkelhäutigen höchst profitablen Plantagenarbeiter wurden das “schwarze Gold” in Konkurrenz zum wirklichen, dem Metallgold genannt.

Die Lage der Afroarbeiter auf Kuba hat Humboldt im sogenannte “schwarzen” Kapitel seines „Politischen Essays über die Insel Kuba“ beschrieben. Das war nicht etwa eine moralische Anklageschrift, sondern eine fundierte sozial- und wirtschaftswissenschaftliche sowie mathematisch-statistische Untersuchung des sich in den Tropenländern entwickelnden Industriekapitalismus. Seine Schrift zeigt die Besonderheit dieses Kapitalismus der Dritten Welt auf – im Unterschied zu dem von Marx und Engels analysierten europäischen Kapitalismus: nämlich in der für Amerika typischen Einheit bzw. Kombination von Lohnarbeit und Sklaverei, deren Profitmarge, wie Humboldt nachwies, beträchtlich höher war als der Profit in Westeuropa.

Infolge weltwirtschaftlicher Veränderungen unterbot der Preis des Arbeitslohns bald bei weitem den der Sklaverei, so dass letztere unrentabel wurde und als bestimmender Wirtschaftsfaktor verschwand, was zu einer gewaltigen  Umwälzung der Ökonomie Kubas und aller tropischen Gebiete führte. Die Sklaverei als ökonomisches System endete in Kuba am 7. Oktober 1886

Als dieser “Politische Essay über die Insel Kuba” in den USA in die Weltsprache Englisch übertragen wurde, fiel das sogenannte “schwarze” Kapitel über die Negersklaverei der in den USA herrschenden Selbstzensur zum Opfer, wurde nicht übersetzt und erschien nicht in den englischsprachigen Buchausgaben. Warum wohl?! Weil damit die besonders in den Südstaaten auf den Baumwollplantagen florierende Massensklaverei der Afro-Nordamerikaner assoziiert und vom Leser in diesem Sinne hätte interpretiert und verurteilt werden können. Die USA wären durch die Verbreitung des humboldtschen Essays als Sklavenhalterland vor der Weltöffentlichkeit an den Pranger gestellt worden.

Gegen diesen Zensurakt erhob Humboldt in einem Offenen Brief in der Daily-Times vom 13. August 1857 sowie in der Berliner Spenerschen Zeitung scharfen Protest und betonte in einer für sein politisches wie moralisches Denken bezeichnenden Weise: “Diesem Teil meines Werkes messe ich mehr Bedeutung bei als irgendeiner meiner astronomischen Beobachtungen, Experimente über die magnetische Intensität oder Statistiken.”

Übrigens: Humboldts „schwarzes Kapitel“ über Sklaverei und Sklavenhandel wurde auf Deutsch erst im Jahre 2002 im „Club Universitario“ von Alicante, Spanien, herausgegeben.

Hans-Otto Dill