Nachruf für MLS Helmut Böhme

Nekrolog auf unser Mitglied
Prof. Dr. Helmut Böhme

Helmut Böhme (Aufnahme: ca. 1955)
Helmut Böhme (Aufnahme: ca. 1955)

* 07 Juni 1929 – † 03. Januar 2015

Am 3. Januar verstarb in seiner Heimatstadt Aschersleben das Mitglied unserer Sozietät, der weithin bekannte Genetiker und Kulturpflanzenforscher Professor Dr. Helmut Böhme im Alter von 85 Jahren. Mit ihm verlieren wir ein hochangesehenes Mitglied unserer Gelehrtengesellschaft, eine der prägenden Persönlichkeiten des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens in der DDR und weit darüber hinaus. Seine Forschungen zur Genetik der Blütenstoffbildung bei höheren Pflanzen gehören zum Grundbestand botanischen Wissens ebenso wie die umfangreichen experimentellen Arbeiten zur spontanen und induzierten Mutabilität von Bakterien.

Dabei war sein wissenschaftlicher Lebensweg keinesfalls problemlos und akademisch geebnet. Die für seinen Bildungsgang so wichtigen schulischen Jahre waren für den am 7. Juni 1929 in Halle an der Saale geborenen Sohn einer Angestelltenfamilie geprägt durch Faschismus und Krieg. Der Unterricht an der Städtischen Oberrealschule in Halle wurde durch die Kriegswirren unterbrochen und erst 1947 mit dem Abitur beendet. Im gleichen Jahr nahm er eine Ausbildung zum Landwirtschaftsgehilfen auf und konnte danach von 1948 bis 1951 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg den Berufsabschluss eines Diplomlandwirtes erwerben. Hans Stubbe aus der weltberühmten biowissenschaftlichen Tradition der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, in den schweren Nachkriegsjahren Wegbereiter und ein führender Kopf der deutschen Kulturpflanzenforschung, nahm Böhme 1951 zunächst als Aspirant in das Institut für Genetik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg auf, um ihn sogleich in die wenig später Aufsehen erregenden Forschungen am Institut für Kulturpflanzenforschung in Gatersleben einzubeziehen. Hier kam Böhme in Berührung mit den Arbeiten des sowjetischen Biologen Trofim Lysenko zu den damals unter Biologen umstrittenen Methoden der vegetativen Hybridisation und dem darauf beruhenden Konstrukt eines sowjetischen Darwinismus als vorgeblich dialektisch-materialistische Biologie. Diese Pseudo-Wissenschaft konfrontierte das Credo der Mendelschen Genetik mit der Aussage, wonach es keine stoffliche Vererbungssubstanz gebe – ein für die Arbeitsgruppe Stubbes unhaltbarer biologischer Forschungsansatz. Für die Arbeiten Böhmes, der 1952 seine Aspirantur in Moskau und zeitweise auch in Leningrad fortgesetzt hatte, musste es in jenen Jahren unausweichlich zum Dissens zwischen seiner wissenschaftlichen Überzeugung und der inzwischen in der Genetik der UdSSR seit der Allunionskonferenz zu Fragen der Genetik 1948 „offiziellen“ Arbeitsrichtung des Lysenkoismus kommen. Nach drei Monaten wurde folgerichtig die Aspirantur in der Sowjetunion abgebrochen. Später – in Veröffentlichungen der Jahre 1954 und 1958 – schrieb Böhme rückblickend, dass seine Versuchsergebnisse und die Stubbes und seiner Mitarbeiter – die jenes Aufsehen erregten – mit den Angaben und Behauptungen der sowjetischen Genetiker der Lysenko-Schule nicht vereinbar seien, weil diese „unter kontrollierten Bedingungen nicht reproduzierbar waren“. Diese kompromisslose Haltung des Teams um Stubbe und Böhme war es, die in der wissenschaftlichen DDR-Öffentlichkeit zwar zunächst verhaltene, aber zunehmend ungeteilte Zustimmung erfuhr. Vor allem auch unter den Studenten wurde ihnen Neugier und Hochachtung entgegengebracht, wie sich der Verfasser dieser Zeilen aus den Zeiten seines Philosophiestudiums noch gut erinnert. Und das, wenn man sich vor Augen hält, dass vor allem vom Ministerium für Volksbildung der Lysenkoismus in der Schulbuchliteratur verbindlich als Lehrkonzept verankert worden war. Im Rückblick mag man sich wundern, dass dieses Auftreten Böhmes – und natürlich auch der anderen Stubbe-Mitarbeiter – damals keine disziplinarischen Beeinträchtigungen der züchterischen Arbeit in Gatersleben mit sich brachte. Das war wohl dem hohen Ansehen des politisch einflussreichen Hans Stubbe zuzuschreiben.

Wie nahe Böhme die mit Lysenkos Pseudowissenschaft verbundenen Maßnahmen gegen die Mendel-Genetiker in Russland gingen und wie ausführlich er sich damit beschäftigt hat, geht u.a. aus seinem im August 2000 erschienenen Artikel „N. I. Vavilov – Genetiker und Kulturpflanzenforscher. Ein Hinweis auf eine erschütternde Dokumentation“ hervor. Hier gibt er den wesentlichen Inhalt der im Jahre 2000 im Moskauer Academia-Verlag erschienenen Dokumentation von J. G. Rokitanskij, J. N. Vavilov und V. A. Gontscharow wieder. In diesem Zusammenhang referiert er auch die engen Beziehungen des Gaterslebener Instituts zu Vavilovs Arbeiten und betont, dass unter seiner Leitung 1976 im Institut beschlossen worden war, den Gebäudekomplex in Gatersleben, in dem das Kulturpflanzen-Weltsortiment untergebracht war, als „Vavilov-Haus“ zu benennen – eben im Gedenken an Vavilov, der zu den Opfern der Lysenko-Hysterie zu rechnen ist.

Zurück in Gatersleben wurde Böhmes Dissertation ganz im Zeichen dieser Erfahrungen unter Betreuung Stubbes abgeschlossen. Die Verteidigung erfolgte 1954 zum Thema „Untersuchungen zum Problem der genetischen Bedeutung von Pfropfungen zwischen genotypisch verschiedenen Pflanzen“. Hier schloss sich die übliche Durststrecke auch für begabte Nachwuchswissenschaftler an – von 1954 bis 1966 arbeitete Böhme als Assistent und Oberassistent am Gaterslebener Institut, avancierte erst 1967 nach längst erfolgter Habilitation (1960 mit „Untersuchungen zur spontanen und induzierten Mutabilität an Proteus mirabilis“) zum Abteilungsleiter und wurde schließlich 1969 zum Direktor des Gaterslebener Instituts für Genetik und Kulturpflanzenforschung ernannt. Als Nachfolger Stubbes prägte Böhme ganz wesentlich die Erfolgsbilanz dieser bedeutenden botanischen Einrichtung im Wissenschaftsensemble der DDR.

Mit dem Anschluss der DDR an die BRD erfolgte auch für Helmut Böhme zum 3. Oktober 1989 der erzwungene Vorruhestand. Das Mitglied zweier hochangesehener deutscher Wissenschaftsakademien (AdW und AdL), Mitglied des Forschungsrates der DDR, seit 1970 Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher LEOPOLDINA, Vorsitzender des Nationalkomitees für Biowissenschaften der DDR, Präsident der European Enviromental Mutagen Society (1977-1980), Managing Editor von „Molecular and General Genetics“ (1968-1980) sowie verantwortlicher Herausgeber des „Biologischen Zentralblattes“ (1975-1990) und Schriftleiter der Zeitschrift „Die Kulturpflanze“ (1983-1990), der Verfasser von über 90 Publikationen, darunter die von ihm 1976 herausgegebenen „Beiträge zur Abstammungslehre“, die sein biohistorisches und biotheoretisches Engagement belegen – dieser Mann der Wissenschaft war für die deutsche Wissenschaftspolitik nun nur noch einen Abwicklungsbescheid wert.

Der Wissenschaftshistoriker wird sich schwerlich damit abfinden, ebenso wenig wie die große Zahl seiner Schüler sowie alle diejenigen jungen Botaniker, die über seine Genetik-Vorlesungen an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (1958-1962) und an der Karl-Marx-Universität Leipzig (1963-1967) die Grundprobleme der modernen Vererbungswissenschaft vermittelt bekamen.

Die gütige und im besten Wissenschaftssinne weise Persönlichkeit von Helmut Böhme lernte man immer dann am nachdrücklichsten kennen, wenn sich der wissenschaftliche Disput über den Rahmen seiner Fachprobleme hinaus auf die geistige Lebenskultur vor allem, aber keineswegs nur in der DDR zu richten begann. So wenig es für ihn eine nur nationale Wissenschaft im erkenntnistheoretischen Sinne gab, so wenig waren Kunst und Literatur auf die Grenzen eines Landes zu fokussieren. Böhme war buchstäblich seiner Wissenschaft hingegeben, aber ein bornierter Blick nur auf das Naheliegende war ihm fremd. Er war ein engagierter Diskutant zu den vielen Entwicklungsproblemen, die ein Staat wie die DDR auf einem komplizierten Weg hervorgebracht hat – und oft genug nicht zu lösen vermochte. In Christa Wolf verehrte er eine Autorin, die für ihn das Alltägliche bewältigen half, weil sie nichts verdeckte oder links liegen ließ. An den Debatten zu ethischen Fragen der modernen Wissenschaft, den Kühlungsborner Tagungen und den Gaterslebener Gesprächen, nahm er regen Anteil. Dabei war er sich nicht zu schade, einfache, scheinbar naive Fragen zu stellen, ohne Scheu vor dem für manchen Naturwissenschaftler oft bedrückend erscheinenden Kosmos philosophischer Probleme. Auch der politische Alltag bewegte ihn sehr. Wohin der Weg der neuen deutschen Wirklichkeit gehen mochte, hat ihm keine Ruhe gelassen. Bis zuletzt blieb er dem wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Leben zugewandt, im Vertrauen auf den Sieg der Vernunft in allen strittigen Menschheitsfragen. So bleibt er in unserer Erinnerung ein dem Leben zugewandter Biologe, ein unermüdlicher Streiter für das Gute im Menschen und in der Welt.

Die Leibniz-Sozietät wird sein Andenken in Ehren bewahren.

Professor Dr. Reinhard Mocek