Forschungen zur Transkulturalität untersuchen die kulturellen Verflechtungs- und Austauschprozesse und den Wandel des Kulturellen im Zeitalter von Globalisierung, verstanden als eine lange Periode der Geschichte der Menschheit, die mit der Herausbildung von Groß- und Kolonialreichen einsetzt, die eine Zäsur mit der Herausbildung nationalstaatlichen Denkens und Handelns erfährt und ihren vorläufigen Höhepunkt in der globalen Vernetzung und in der Erosion eindeutiger Grenzen erreicht, die zuvor Staaten, Märkte, Zivilisationen, Kulturen, Lebenswelten und Menschen trennten. Für Transkulturalität, ihre Phänomene und Prozesse interessieren sich viele Disziplinen, die – in unvollständiger Reihung – von Anthropologie, Denkmalpflege, Geschichte, in Nordamerika sehr stark die Gesundheits- und Pflegewissenschaften, hierzulande prominent die Kommunikations-, Kultur-, Sprach- und Literaturwissenschaften bis zu Philosophie, Religionswissenschaft und Soziologie reichen. Mit der Erforschung transkultureller Prozesse befasst sich zunächst der kubanische Anthropologe Fernando Ortiz (1861-1969), dem es darum ging, die Bedeutung zweier Agrarprodukte – Tabak und Zucker, ihres Anbaus und ihres Konsums – für die kubanische Gesellschaft und ihre Transformationen im Zuge des Kolonialismus, Postkolonialismus und der Migration herauszuarbeiten. Seither wandert dieses Konzept, das bei Ortiz (1940) noch als Gegenentwurf zum Konzept der ‚Akkulturation‘ gedacht war, durch Räume, Zeiten und Forschungsfelder und stellt das dar, was Edward Said (1982) als „traveling concept“ diskutiert hat. Eine der Folgen der Wanderschaft – oder auch der mehrfachen Neuerfindung des Konzepts – besteht darin, dass Transkulturalität heutzutage von nicht wenigen KulturtheoretikerInnen in ein Stufenmodell bzw. ein Modell der Ablösung von Großkonzepten des Managements kultureller Konflikte gezwungen wird. Auf die monokulturelle Imago des Nationalstaats folgten demnach – in quasi linearer Abfolge – zunächst ein Konzept der Bikulturalität, dann der Multikulturalität, dann der Interkulturalität, gegenwärtig der Transkulturalität … und künftig vielleicht so etwas wie der Hyperkulturalität.
Das Problem liegt auf der Hand: weder lassen sich mit einem solchen Stufenmodell die immer weiter sich ausdifferenzierenden Prozesse der kulturellen Verflechtung, des Austauschs, des Konflikts im Zuge von Mobilität, Migration und Kontakt von Menschen verstehen, noch wird das analytische, und noch viel weniger das theoretische und letztlich auch das handlungsleitende Potential ausgereizt, das sich mit den einzelnen Konzepten verbinden lässt.
In meinem Vortrag möchte ich skizzieren, wie die Grundzüge einer Theorie der Transkulturalität aussehen können und welche Schlüsselkonzepte darin zum Tragen kommen: Ungleichheit, Differenz und Emergenz (vgl. Erfurt 2021). In einem weiteren Schritt geht es mir als Sprachwissenschaftler darum, die Bedeutung von Sprache im Kontext von transkulturellen Verflechtungen sichtbar zu machen und zu zeigen, wie Sprache, methodisch kontrolliert, in die Analyse von transkulturellen Prozessen einfließt. Denn eines scheint festzustehen, dass Transkulturalität im hohen Maße auf die mit Sprache verbundenen Prozesse des Austauschs von Akteuren und der Verflechtung ihres Handelns angewiesen ist und dass die Mehrsprachigkeit in prominenter Weise einen Türöffner für die Beschäftigung mit Transkulturalität darstellt. Diese Prozesse treiben die Veränderung – auch – der Sprachen, Sprachpraktiken und sprachlichen Verhältnisse an. Bedenkt man hierbei den Nexus von Sprache(n) und Kultur(n), der sich auf vielfältige Weise artikuliert, so wird deutlich, dass transkulturelle Prozesse und Perspektiven auch den Blick auf die Sprache in dem Sinne verändern, dass sich mehr und mehr die Aufmerksamkeit auf „SprecherInnen in Bewegung“ (Erfurt/Gessinger 2022), d.h. auf sprachlich interagierende, mobile Subjekte in von Mehrsprachigkeit geprägten Räumen richtet.
CV Jürgen Erfurt , geb. 1954 in Arnstadt, ist Romanist und Sprachwissenschaftler. Er lehrte und forschte bis 2020 am Institut für Romanische Sprachen und Literaturen der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Erfurt studierte von 1973 bis 1977 Romanistik und Sprachwissenschaft (Französisch, Rumänisch, Spanisch) an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Nach einem Forschungsstudium der Rumänistik in Leipzig und Bukarest unter Leitung von Klaus Bochmann wurde er 1981 in Leipzig mit einer Dissertation zum Rumänischen im 19. Jahrhundert promoviert. 1985 und 1986 absolvierte er ein dreisemestriges Studium der Hochschulpädagogik. Seine 1986 verteidigte Dissertation B (Habilitation) zum Französischen war text- und diskursanalytisch ausgerichtet. Erfurt wurde 1987 als ordentlicher Dozent für französische Sprachwissenschaft an der Universität Leipzig zum Hochschullehrer berufen. In den Jahren nach 1989 war er sowohl an der Universität Leipzig als auch als Gastwissenschaftler und Gastprofessor an anderen Universitäten (Oldenburg, Erfurt, Frankfurt am Main, Essen, Tübingen) tätig, darunter von 1993 bis 1994 am Ontario Institute for Studies in Education in Toronto (Kanada). 1996 erhielt er den Ruf auf die Professur (C4) für Romanistische Linguistik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, wo er bis zu seiner Pensionierung im April 2020 tätig war. Erfurt war mehrfach Gastprofessor in Kanada und den USA.
Wissenschaftliches Wirken
Erfurt veröffentlichte zahlreiche Bücher und Aufsätze zu vielen Themen der romanistischen Linguistik, der Soziolinguistik und der Mehrsprachigkeitsforschung. Seine Forschungsschwerpunkte erstrecken sich auf Untersuchungen zu Sprachgeschichte und Sprachwandel romanischer Sprachen, hierbei auch auf die Rolle von Schrift und Schriftlichkeit im Sprachwandelgeschehen, die Sprachpolitik in romanischsprachigen Ländern, die Herausbildung von standardsprachlichen Varietäten romanischer Sprachen, darunter jene in der kanadischen Provinz Québec und der Republik Moldau. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf den Forschungen zur Frankophonie, den sprachlichen Verhältnissen und der Sprachpraxis frankophoner Minderheiten in Kanada und in anderen Regionen. Für diese Untersuchungen zentral sind neben der Französischsprachigkeit die Phänomene von Mehrsprachigkeit und Migration, denen sich Erfurt in mehreren Fallstudien in Deutschland, Kanada, Frankreich und der Republik Moldau widmete. Hierbei geht er der Frage nach, mit welchen Modellen, Problemen und Konflikten das Sprachenlernen im schulischen Kontext und darüber hinaus in der sprachlichen Erziehung zu Mehrsprachigkeit verbunden ist. Schließlich sind, ausgehend von seinen Forschungserfahrungen in Kanada und in anderen romanischsprachigen Räumen, die Untersuchungen zum Problemfeld sprachlicher Mischungsprozesse sowie zur Interkulturalität und Transkulturalität zu nennen.
Jürgen Erfurt (MLS)
Sprachwissenschaftliche Zugriffe auf Transkulturalität
Moderation Kerstin Störl
Die Veranstaltung findet in Zoom statt:
https://uni-potsdam.zoom.us/j/95397029406
Meeting ID: 953 9702 9406
Passwort: 13714361
Abstract:
Forschungen zur Transkulturalität untersuchen die kulturellen Verflechtungs- und Austauschprozesse und den Wandel des Kulturellen im Zeitalter von Globalisierung, verstanden als eine lange Periode der Geschichte der Menschheit, die mit der Herausbildung von Groß- und Kolonialreichen einsetzt, die eine Zäsur mit der Herausbildung nationalstaatlichen Denkens und Handelns erfährt und ihren vorläufigen Höhepunkt in der globalen Vernetzung und in der Erosion eindeutiger Grenzen erreicht, die zuvor Staaten, Märkte, Zivilisationen, Kulturen, Lebenswelten und Menschen trennten. Für Transkulturalität, ihre Phänomene und Prozesse interessieren sich viele Disziplinen, die – in unvollständiger Reihung – von Anthropologie, Denkmalpflege, Geschichte, in Nordamerika sehr stark die Gesundheits- und Pflegewissenschaften, hierzulande prominent die Kommunikations-, Kultur-, Sprach- und Literaturwissenschaften bis zu Philosophie, Religionswissenschaft und Soziologie reichen. Mit der Erforschung transkultureller Prozesse befasst sich zunächst der kubanische Anthropologe Fernando Ortiz (1861-1969), dem es darum ging, die Bedeutung zweier Agrarprodukte – Tabak und Zucker, ihres Anbaus und ihres Konsums – für die kubanische Gesellschaft und ihre Transformationen im Zuge des Kolonialismus, Postkolonialismus und der Migration herauszuarbeiten. Seither wandert dieses Konzept, das bei Ortiz (1940) noch als Gegenentwurf zum Konzept der ‚Akkulturation‘ gedacht war, durch Räume, Zeiten und Forschungsfelder und stellt das dar, was Edward Said (1982) als „traveling concept“ diskutiert hat. Eine der Folgen der Wanderschaft – oder auch der mehrfachen Neuerfindung des Konzepts – besteht darin, dass Transkulturalität heutzutage von nicht wenigen KulturtheoretikerInnen in ein Stufenmodell bzw. ein Modell der Ablösung von Großkonzepten des Managements kultureller Konflikte gezwungen wird. Auf die monokulturelle Imago des Nationalstaats folgten demnach – in quasi linearer Abfolge – zunächst ein Konzept der Bikulturalität, dann der Multikulturalität, dann der Interkulturalität, gegenwärtig der Transkulturalität … und künftig vielleicht so etwas wie der Hyperkulturalität.
Das Problem liegt auf der Hand: weder lassen sich mit einem solchen Stufenmodell die immer weiter sich ausdifferenzierenden Prozesse der kulturellen Verflechtung, des Austauschs, des Konflikts im Zuge von Mobilität, Migration und Kontakt von Menschen verstehen, noch wird das analytische, und noch viel weniger das theoretische und letztlich auch das handlungsleitende Potential ausgereizt, das sich mit den einzelnen Konzepten verbinden lässt.
In meinem Vortrag möchte ich skizzieren, wie die Grundzüge einer Theorie der Transkulturalität aussehen können und welche Schlüsselkonzepte darin zum Tragen kommen: Ungleichheit, Differenz und Emergenz (vgl. Erfurt 2021). In einem weiteren Schritt geht es mir als Sprachwissenschaftler darum, die Bedeutung von Sprache im Kontext von transkulturellen Verflechtungen sichtbar zu machen und zu zeigen, wie Sprache, methodisch kontrolliert, in die Analyse von transkulturellen Prozessen einfließt. Denn eines scheint festzustehen, dass Transkulturalität im hohen Maße auf die mit Sprache verbundenen Prozesse des Austauschs von Akteuren und der Verflechtung ihres Handelns angewiesen ist und dass die Mehrsprachigkeit in prominenter Weise einen Türöffner für die Beschäftigung mit Transkulturalität darstellt. Diese Prozesse treiben die Veränderung – auch – der Sprachen, Sprachpraktiken und sprachlichen Verhältnisse an. Bedenkt man hierbei den Nexus von Sprache(n) und Kultur(n), der sich auf vielfältige Weise artikuliert, so wird deutlich, dass transkulturelle Prozesse und Perspektiven auch den Blick auf die Sprache in dem Sinne verändern, dass sich mehr und mehr die Aufmerksamkeit auf „SprecherInnen in Bewegung“ (Erfurt/Gessinger 2022), d.h. auf sprachlich interagierende, mobile Subjekte in von Mehrsprachigkeit geprägten Räumen richtet.
CV
Jürgen Erfurt , geb. 1954 in Arnstadt, ist Romanist und Sprachwissenschaftler. Er lehrte und forschte bis 2020 am Institut für Romanische Sprachen und Literaturen der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Erfurt studierte von 1973 bis 1977 Romanistik und Sprachwissenschaft (Französisch, Rumänisch, Spanisch) an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Nach einem Forschungsstudium der Rumänistik in Leipzig und Bukarest unter Leitung von Klaus Bochmann wurde er 1981 in Leipzig mit einer Dissertation zum Rumänischen im 19. Jahrhundert promoviert. 1985 und 1986 absolvierte er ein dreisemestriges Studium der Hochschulpädagogik. Seine 1986 verteidigte Dissertation B (Habilitation) zum Französischen war text- und diskursanalytisch ausgerichtet. Erfurt wurde 1987 als ordentlicher Dozent für französische Sprachwissenschaft an der Universität Leipzig zum Hochschullehrer berufen. In den Jahren nach 1989 war er sowohl an der Universität Leipzig als auch als Gastwissenschaftler und Gastprofessor an anderen Universitäten (Oldenburg, Erfurt, Frankfurt am Main, Essen, Tübingen) tätig, darunter von 1993 bis 1994 am Ontario Institute for Studies in Education in Toronto (Kanada). 1996 erhielt er den Ruf auf die Professur (C4) für Romanistische Linguistik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, wo er bis zu seiner Pensionierung im April 2020 tätig war. Erfurt war mehrfach Gastprofessor in Kanada und den USA.
Wissenschaftliches Wirken
Erfurt veröffentlichte zahlreiche Bücher und Aufsätze zu vielen Themen der romanistischen Linguistik, der Soziolinguistik und der Mehrsprachigkeitsforschung. Seine Forschungsschwerpunkte erstrecken sich auf Untersuchungen zu Sprachgeschichte und Sprachwandel romanischer Sprachen, hierbei auch auf die Rolle von Schrift und Schriftlichkeit im Sprachwandelgeschehen, die Sprachpolitik in romanischsprachigen Ländern, die Herausbildung von standardsprachlichen Varietäten romanischer Sprachen, darunter jene in der kanadischen Provinz Québec und der Republik Moldau. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf den Forschungen zur Frankophonie, den sprachlichen Verhältnissen und der Sprachpraxis frankophoner Minderheiten in Kanada und in anderen Regionen. Für diese Untersuchungen zentral sind neben der Französischsprachigkeit die Phänomene von Mehrsprachigkeit und Migration, denen sich Erfurt in mehreren Fallstudien in Deutschland, Kanada, Frankreich und der Republik Moldau widmete. Hierbei geht er der Frage nach, mit welchen Modellen, Problemen und Konflikten das Sprachenlernen im schulischen Kontext und darüber hinaus in der sprachlichen Erziehung zu Mehrsprachigkeit verbunden ist. Schließlich sind, ausgehend von seinen Forschungserfahrungen in Kanada und in anderen romanischsprachigen Räumen, die Untersuchungen zum Problemfeld sprachlicher Mischungsprozesse sowie zur Interkulturalität und Transkulturalität zu nennen.
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