Februar-Sitzung der Klasse Naturwissenschaften und Technikwissenschaften
12. Februar 2015 - 10:00 - 12:00
Die Klasse Naturwissenschaften und Technikwissenschaften lädt zu Ihrer Februar-Sitzung am 12. Februar 2015 ein. Es wird der folgende Vortrag gehalten und zur Diskussion gestellt:
Hans Sünkel (MLS):
Das Geoid – theoria cum praxi et commune bonum Die Veranstaltung ist Bestandteil des Kolloquiums aus Anlass des 75. Geburtstages von Erik W. Grafarend 13. Februar 2015
10.00 bis 12.00 Uhr
Ort: Rathaus Wedding, Rathaussaal, Müllerstr. 146/147 (erreichbar mit S-Ringbahn Station Wedding und U6 bis Station Leopoldplatz oder mit S-Bahn Station Friedrichstraße und U6 bis Station Leopoldplatz);
C.V.:
Prof. Sünkel ist Geodät und Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 2014. Nach der Promotion (1976) wurde er Research Associate am Department of Geodetic Science der Ohio State University in Columbus. Habilitiert hat er sich 1981; 1983 wurde er als ordentlicher Professor für Mathematische und Numerische Geodäsie an die TU Graz berufen. Hier wirkte er auch 2000 – 2003 als Vizerektor für Forschung und 2003 – 2011 als Rektor, ebenso 2010 – 2011 als Vorsitzender der Österreichischen Universitätenkonferenz. Außerdem war er 1990 – 2013 Vorstand für Satellitengeodäsie am Institut für Weltraumforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und 2001 – 2004 Direktor dieses Instituts.
Er weilte zu Gastprofessuren in den USA, in Kanada und der VR China, ist Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Akademien und wirkt in mehreren nationalen und internationalen Gremien mit.
Abstract:
Das komplexe Objekt Erde hat mannigfache Gesichter: Form und Größe, Dichte-, Druck- und Temperaturverteilung, Rotationsverhalten, dynamische Prozesse, Magnetfeld, Schwerefeld und dergleichen mehr. Und jede individuelle Betrachtung liefert ein ebenso individuelles Bild des Objektes Erde, und erst die Kombination dieser Einzelbilder lässt uns Zusammenhänge erkennen, gedanklich und schließlich mathematisch-numerisch in ihr Innenleben vordringen und so sukzessive das System Erde besser verstehen. Unsere wissenschaftliche Neugier drängt uns danach und die wirtschaftlichen Notwendigkeiten sind es, die unserem Anliegen Nachdruck verleihen.
Wenn das wissenschaftliche Hauptaugenmerk auf das Schwerefeld der Erde und seine Figur in mathematisch-physikalischer Ausprägung gelegt wird, dann steht das „Geoid“ im Fokus der Betrachtung. Die Geodäsie beschreibt das Geoid als eine „Äquipotentialfläche im mittleren Meeresniveau“. Sehr viel salopper könnte das Geoid als „Role Model“ gelten– eine statische Fläche, die in guter Näherung durch die Oberfläche eines (fiktiven) ruhenden Ozeans beschrieben wird. Und besonders bodenständig könnte man sich der Wasserwage bedienen, diesen „Sensor“ an jedem beliebigen Punkt des Geoids in jeder beliebigen Richtung anlegen, und er würde stets „horizontal“ melden. In diesem Sinne ist dieses „Role Model“ namens Geoid gleichsam eine globale Horizontale.
Wissenschaftliche Neugier oder vielleicht doch Notwendigkeit? Drei Antworten seien hier gegeben, die eine Brücke spannen von der Theorie über den Weg der Praxis bis hin zur wirtschaftlichen Notwendigkeit – theoria cum praxi et commune bonum:
Geoid und das Erdinnere: Wenn man von der Rotation der Erde absieht, dann ist es die nicht ganz regelmäßige Massenverteilung des gesamten Erdkörpers, die dem Geoid seine unregelmäßige Form verleiht, da sich die Massenverteilung im Gravitationsfeld und folglich im Geoid abbildet. Der Umkehrschluss scheint daher naheliegend, nämlich aus der Kenntnis des Geoids einen Blick in das Erdinnere zu wagen und zu versuchen, aus der Wirkung „Gravitationsfeld“ auf seine Ursache „Massenverteilung“ zu schließen. Dieser erhoffte Blick ins Erdinnere ist jedoch mit einem schwierigen inversen Problem gleichzusetzen, das nicht eindeutig ist und zur Vermeidung von Phantomlösungen zusätzliche Quelleninformation, vor allem in Form der Laufzeit seismischer Wellen, benötigt.
Geoid und Meeresoberfläche: Die tatsächliche Meeresoberfläche ist von Strömungen und Oberflächenwellen gekennzeichnet, die zahlreiche Ursachen haben: Erdrotation, Gezeiten, Wind, Temperatur, Luftdruck, aber auch Salzgehalt, etc. bewirken eine Dynamik der Ozeane und somit eine Abweichung der Meeresoberfläche vom ruhenden „Role model“. Und wenn die Geometrie der Ozeanoberfläche auf das (physikalisch definierte) Geoid bezogen wird, so erhalten wir Kenntnis über die globalen Ozeanströmungen und somit auch über die Umverteilung von Wärmeenergie als bedeutende Information für die Klimaforschung.
Geoid als Höhenbezugsfläche: Alle orthometrischen Höhen werden von diesem „Role Model“ aus gezählt. Das Geoid ist somit eine Bezugsfläche für Höhen. Und absolute Höhen hoher Genauigkeit erfordern auch eine absolute Bezugsfläche mit ebensolcher Genauigkeit. Also benötigen wir ein Geoid gleichsam als lokal horizontale Plattform, als Bezugsfläche mit der größtmöglichen Genauigkeit.
Globale Strukturen erfordern naturgemäß globale Verfahren zu deren Bestimmung. Daher wurden seit dem Jahr 2000 gleich drei dedizierte Satellitenmissionen realisiert, die allesamt – mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung – ein Ziel verfolgten, nämlich die Bestimmung des Geoids: CHAMP, GRACE und GOCE. Eine daraus abgeleitete Geoidlösung ist zwar global und hoch genau, ihre räumliche Auflösung ist jedoch systembedingt begrenzt. Es bedarf daher regionaler Verfeinerungen auf der Basis terrestrischer Schwerefelddaten und einer konsistenten Verarbeitung durch Datenkombination.
Und eine Projektion in die ferne Zukunft lässt uns spekulieren, die auf das Geoid bezogenen Höhen präzise mit Uhren (!) zu messen und nicht mehr durch Nivellement wie bisher. Raum wird also ersetzt durch Zeit, und der allgemein-relativistische Effekt der – wenn auch extrem geringen – Frequenzabhängigkeit von Atomuhren vom jeweils lokalen Gravitationspotential wird uns dies ermöglichen.
Und schließlich wird das Global Geodetic Observing System der sich abzeichnenden Zukunft mit dem Geoid als integrierter global-horizontaler Plattform wird aber noch sehr viel mehr bieten: ein präzises Monitoring unseres gesamten Planeten als Grundvoraussetzung für das Verständnis seiner dynamischen Entwicklung und deren Vorhersage. Diese Weiterentwicklung beruht naturgemäß auf theoretischen Entwicklungen und deren Umsetzung in Hochtechnologie, aber ebenso auf interdisziplinärem Handeln und intensiver internationaler Zusammenarbeit – ein Tun, das keine Grenzen kennt – weder fachliche, noch nationale – theoria cum praxi et commune bonum.
Die Klasse Naturwissenschaften und Technikwissenschaften lädt zu Ihrer Februar-Sitzung am 12. Februar 2015 ein. Es wird der folgende Vortrag gehalten und zur Diskussion gestellt:
Hans Sünkel (MLS):
Das Geoid – theoria cum praxi et commune bonum
Die Veranstaltung ist Bestandteil des Kolloquiums aus Anlass des 75. Geburtstages von Erik W. Grafarend 13. Februar 2015
10.00 bis 12.00 Uhr
Ort: Rathaus Wedding, Rathaussaal, Müllerstr. 146/147 (erreichbar mit S-Ringbahn Station Wedding und U6 bis Station Leopoldplatz oder mit S-Bahn Station Friedrichstraße und U6 bis Station Leopoldplatz);
C.V.:
Prof. Sünkel ist Geodät und Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 2014. Nach der Promotion (1976) wurde er Research Associate am Department of Geodetic Science der Ohio State University in Columbus. Habilitiert hat er sich 1981; 1983 wurde er als ordentlicher Professor für Mathematische und Numerische Geodäsie an die TU Graz berufen. Hier wirkte er auch 2000 – 2003 als Vizerektor für Forschung und 2003 – 2011 als Rektor, ebenso 2010 – 2011 als Vorsitzender der Österreichischen Universitätenkonferenz. Außerdem war er 1990 – 2013 Vorstand für Satellitengeodäsie am Institut für Weltraumforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und 2001 – 2004 Direktor dieses Instituts.
Er weilte zu Gastprofessuren in den USA, in Kanada und der VR China, ist Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Akademien und wirkt in mehreren nationalen und internationalen Gremien mit.
Abstract:
Das komplexe Objekt Erde hat mannigfache Gesichter: Form und Größe, Dichte-, Druck- und Temperaturverteilung, Rotationsverhalten, dynamische Prozesse, Magnetfeld, Schwerefeld und dergleichen mehr. Und jede individuelle Betrachtung liefert ein ebenso individuelles Bild des Objektes Erde, und erst die Kombination dieser Einzelbilder lässt uns Zusammenhänge erkennen, gedanklich und schließlich mathematisch-numerisch in ihr Innenleben vordringen und so sukzessive das System Erde besser verstehen. Unsere wissenschaftliche Neugier drängt uns danach und die wirtschaftlichen Notwendigkeiten sind es, die unserem Anliegen Nachdruck verleihen.
Wenn das wissenschaftliche Hauptaugenmerk auf das Schwerefeld der Erde und seine Figur in mathematisch-physikalischer Ausprägung gelegt wird, dann steht das „Geoid“ im Fokus der Betrachtung. Die Geodäsie beschreibt das Geoid als eine „Äquipotentialfläche im mittleren Meeresniveau“. Sehr viel salopper könnte das Geoid als „Role Model“ gelten– eine statische Fläche, die in guter Näherung durch die Oberfläche eines (fiktiven) ruhenden Ozeans beschrieben wird. Und besonders bodenständig könnte man sich der Wasserwage bedienen, diesen „Sensor“ an jedem beliebigen Punkt des Geoids in jeder beliebigen Richtung anlegen, und er würde stets „horizontal“ melden. In diesem Sinne ist dieses „Role Model“ namens Geoid gleichsam eine globale Horizontale.
Wissenschaftliche Neugier oder vielleicht doch Notwendigkeit? Drei Antworten seien hier gegeben, die eine Brücke spannen von der Theorie über den Weg der Praxis bis hin zur wirtschaftlichen Notwendigkeit – theoria cum praxi et commune bonum:
Globale Strukturen erfordern naturgemäß globale Verfahren zu deren Bestimmung. Daher wurden seit dem Jahr 2000 gleich drei dedizierte Satellitenmissionen realisiert, die allesamt – mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung – ein Ziel verfolgten, nämlich die Bestimmung des Geoids: CHAMP, GRACE und GOCE. Eine daraus abgeleitete Geoidlösung ist zwar global und hoch genau, ihre räumliche Auflösung ist jedoch systembedingt begrenzt. Es bedarf daher regionaler Verfeinerungen auf der Basis terrestrischer Schwerefelddaten und einer konsistenten Verarbeitung durch Datenkombination.
Und eine Projektion in die ferne Zukunft lässt uns spekulieren, die auf das Geoid bezogenen Höhen präzise mit Uhren (!) zu messen und nicht mehr durch Nivellement wie bisher. Raum wird also ersetzt durch Zeit, und der allgemein-relativistische Effekt der – wenn auch extrem geringen – Frequenzabhängigkeit von Atomuhren vom jeweils lokalen Gravitationspotential wird uns dies ermöglichen.
Und schließlich wird das Global Geodetic Observing System der sich abzeichnenden Zukunft mit dem Geoid als integrierter global-horizontaler Plattform wird aber noch sehr viel mehr bieten: ein präzises Monitoring unseres gesamten Planeten als Grundvoraussetzung für das Verständnis seiner dynamischen Entwicklung und deren Vorhersage. Diese Weiterentwicklung beruht naturgemäß auf theoretischen Entwicklungen und deren Umsetzung in Hochtechnologie, aber ebenso auf interdisziplinärem Handeln und intensiver internationaler Zusammenarbeit – ein Tun, das keine Grenzen kennt – weder fachliche, noch nationale – theoria cum praxi et commune bonum.
Details
Veranstaltungsort
Berlin, Google Karte anzeigen