Die Sitzung findet als Hybrid-Veranstaltung (Präsenz und Zoom) statt.
Michael Schippan (MLS)
Grundlegende Studien zur Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte. Georgij Plechanov – Sidney Hook – Ian Kershaw
Während seit der zweiten Hälfte des 20. Jh. verstärkt Strukturen, Prozesse und soziale Gruppen untersucht wurden, gibt es über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte nur sehr wenige verallgemeinernde Studien. Waren zuvor die „großen Männer der Geschichte“ verherrlicht oder „Weltenverheerer“ verdammt worden, versuchte man im 20. Jh. Führungspersönlichkeiten als beliebig „austauschbar“ oder – im marxistischen Denken – als „machtausübende Vertreter der herrschenden Klasse“ hinzustellen. Der 34 Jahre im Exil lebende Sozialist Georgij Plechanov (1856-1918) ließ 1898 in einem in Russland legal erscheinenden Organ eine Artikelfolge „O roli ličnosti v istorii“ („Über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte“) erscheinen, die nach 1945 vor allem von der Sowjetischen Besatzungszone in Massenauflagen herausgegeben wurde. Jedoch ist dieses Werk bisher noch nicht hinsichtlich der Argumentationsweise und der Quellen analysiert worden. Plechanov kritisierte einerseits die Geringschätzung historischer Persönlichkeiten. Andererseits forderte er, die historischen Umstände für deren Erscheinen als entscheidend anzusehen, und geht dabei deterministisch vom Wirken „historischer Gesetze“ aus, ohne diese konkret zu benennen. Der US-amerikanische Sozialphilosoph Sidney Hook (1902-1989), einer der Begründer des Pragmatismus, zunächst Bewunderer Lenins und dann Neokonservativer unter Ronald Reagan, wies in „The Hero in History“ (1943, deutsch: „Der Held der Geschichte“, 1951) auf das Aufkommen bisher beispiellos diktatorisch regierender Gewaltherrscher (Mussolini, Hitler, Stalin) nach dem Oktoberputsch von 1917 in Russland hin. Außer Politikern und Feldherrn hätten sich immer mehr auch Wissenschaftler, Künstler und Sportler ihren Ruhm als herausragende Persönlichkeiten erworben. Der als Hitler-Biograph bekannt gewordene britische Historiker Ian Kershaw (*1943) stellte unlängst in seiner Monographie „Persönlichkeit und Macht“ (2022) „Erbauer und Zerstörer des modernen Europa“ im 20. Jahrhundert einander gegenüber. Abschließend soll auf die in letzter Zeit gestiegene Bedeutung des Internets und der sozialen Medien hingewiesen werden, mit deren Hilfe markante Personen nunmehr massenhaft als kurzlebige „Medienstars“ konstruiert werden. Es wird gefragt, ob jetzt das endgültige Aus für die „charismatische Persönlichkeit“ (Max Weber) in einer Zeit eingeläutet worden ist, in der vielfach nur noch innerhalb abgeschlossener Gemeinschaften („Echokammern“, „Blasen“) kommuniziert wird.
CV
Der Osteuropa- und Frühneuzeithistoriker Michael Schippan (*1955) studierte in Berlin und Moskau, unterrichtete an der Humboldt-Universität und der Freien Universität zu Berlin. Er veröffentlichte Studien zur Geschichte Russlands und der deutsch-russischen Beziehungen, Monographien zu den Reformen Zar Peters I.(1996) und seinen Reisen durch deutsche Territorien 1697-1717 (St. Petersburg 2021) sowie zur Aufklärung in Russland (2012). Nach seiner Aufnahme in die Leibniz-Sozietät 2020 erschienen eine von ihm herausgegebene Gedenkschrift für Erhard Hexelschneider (2022) sowie Ehrengaben für Ingrid Kästner (2023) und Peter Hoffmann (2025).
Die Sitzung findet als Hybrid-Veranstaltung (Präsenz und Zoom) statt.
Michael Schippan (MLS)
Grundlegende Studien zur Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte. Georgij Plechanov – Sidney Hook – Ian Kershaw
Während seit der zweiten Hälfte des 20. Jh. verstärkt Strukturen, Prozesse und soziale Gruppen untersucht wurden, gibt es über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte nur sehr wenige verallgemeinernde Studien. Waren zuvor die „großen Männer der Geschichte“ verherrlicht oder „Weltenverheerer“ verdammt worden, versuchte man im 20. Jh. Führungspersönlichkeiten als beliebig „austauschbar“ oder – im marxistischen Denken – als „machtausübende Vertreter der herrschenden Klasse“ hinzustellen. Der 34 Jahre im Exil lebende Sozialist Georgij Plechanov (1856-1918) ließ 1898 in einem in Russland legal erscheinenden Organ eine Artikelfolge „O roli ličnosti v istorii“ („Über die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte“) erscheinen, die nach 1945 vor allem von der Sowjetischen Besatzungszone in Massenauflagen herausgegeben wurde. Jedoch ist dieses Werk bisher noch nicht hinsichtlich der Argumentationsweise und der Quellen analysiert worden. Plechanov kritisierte einerseits die Geringschätzung historischer Persönlichkeiten. Andererseits forderte er, die historischen Umstände für deren Erscheinen als entscheidend anzusehen, und geht dabei deterministisch vom Wirken „historischer Gesetze“ aus, ohne diese konkret zu benennen. Der US-amerikanische Sozialphilosoph Sidney Hook (1902-1989), einer der Begründer des Pragmatismus, zunächst Bewunderer Lenins und dann Neokonservativer unter Ronald Reagan, wies in „The Hero in History“ (1943, deutsch: „Der Held der Geschichte“, 1951) auf das Aufkommen bisher beispiellos diktatorisch regierender Gewaltherrscher (Mussolini, Hitler, Stalin) nach dem Oktoberputsch von 1917 in Russland hin. Außer Politikern und Feldherrn hätten sich immer mehr auch Wissenschaftler, Künstler und Sportler ihren Ruhm als herausragende Persönlichkeiten erworben. Der als Hitler-Biograph bekannt gewordene britische Historiker Ian Kershaw (*1943) stellte unlängst in seiner Monographie „Persönlichkeit und Macht“ (2022) „Erbauer und Zerstörer des modernen Europa“ im 20. Jahrhundert einander gegenüber. Abschließend soll auf die in letzter Zeit gestiegene Bedeutung des Internets und der sozialen Medien hingewiesen werden, mit deren Hilfe markante Personen nunmehr massenhaft als kurzlebige „Medienstars“ konstruiert werden. Es wird gefragt, ob jetzt das endgültige Aus für die „charismatische Persönlichkeit“ (Max Weber) in einer Zeit eingeläutet worden ist, in der vielfach nur noch innerhalb abgeschlossener Gemeinschaften („Echokammern“, „Blasen“) kommuniziert wird.
CV
Der Osteuropa- und Frühneuzeithistoriker Michael Schippan (*1955) studierte in Berlin und Moskau, unterrichtete an der Humboldt-Universität und der Freien Universität zu Berlin. Er veröffentlichte Studien zur Geschichte Russlands und der deutsch-russischen Beziehungen, Monographien zu den Reformen Zar Peters I.(1996) und seinen Reisen durch deutsche Territorien 1697-1717 (St. Petersburg 2021) sowie zur Aufklärung in Russland (2012). Nach seiner Aufnahme in die Leibniz-Sozietät 2020 erschienen eine von ihm herausgegebene Gedenkschrift für Erhard Hexelschneider (2022) sowie Ehrengaben für Ingrid Kästner (2023) und Peter Hoffmann (2025).
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