Wissenschaftliches Kolloquium „Technik und Literatur“; Bericht

Bericht über das

Kolloquium “Technik und Literatur”

anlässlich des 70. Geburtstag von Wolfgang Coy

am 8. Dezember 2017 in Berlin.

Das Kolloquium wurde veranstaltet von der Klasse Naturwissenschaften und Technikwissenschaften der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e. V. zusammen mit dem Arbeitskreis Emergente Systeme, Information und Gesellschaft.

Die heutige Lebens- und Arbeitswelt ist seit langer Zeit von der technischen Entwicklung vielfältig und stark geprägt. Da Literatur die gesellschaftlichen Bedingungen nicht ignorieren kann, prallen Technik und Literatur praktisch zwangsläufig aufeinander. Das Thema bietet viele Aspekte und Fragestellungen, von denen hier nur vier genannt seien:

  • Wie wird Technik in der Literatur reflektiert und rezipiert?
  • Welche spezifische Rolle spielt dabei die Science-Fiction-Literatur?
  • Wie verändert die technische Entwicklung die Erscheinungsform von Literatur?
  • Und beeinflusst umgekehrt Literatur die technische Entwicklung?

Im Programm des Kolloquiums waren sechs Vorträge vorgesehen, von denen der von Nina Hager krankheitsbedingt ausfallen musste. Titel und Kurzfassungen sind im folgenden zusammengestellt.

Gerhard Banse: Technik und Literatur – Annäherungen

Die Beziehungen zwischen Literatur und Technik sind vielfältig. Sie beziehen sich einerseits auf die inhaltliche Darstellung von Technik in der Literatur, andererseits auf den Einfluss, den die Technik und ihre Entwicklung auf Produktion, Distribution und Rezeption von Literatur haben. Im Vortrag steht das „einerseits“ im Zentrum: Literatur wird häufig als Spiegel des öffentlichen Bewusstseins betrachtet. Davon ausgehend wird bezogen auf Technik („das Technische“) dargestellt,

  • wie Technik (d.h. ihre Voraussetzungen, Ausformungen, Nutzungen und Wirkungen) literarisch „gespiegelt“ wird;
  • welche Arten von „Spiegelungen“ der Technik dabei auftreten (etwa „verschwommen“, „überzogen“, „matt“, „scharf“);
  • mit welchen Wertungen der Technik diese „Spiegelungen“ verbunden sind („illusionär“, „optimistisch“, „kritisch“, „pessimistisch“ u.a.);
  • welche Menschen- und/oder Gesellschaftsbilder sich darin bzw. „dahinter“ verbergen (z.B. homo faber / ludens / oeconomicus / creator; „Mängelwesen“ Mensch; Gerechtigkeit; generelle Zivilisationskritik vs. Fortschrittsglaube).

Gegen die in der Literatur verbreitete These, dass sich deutschsprachige Literatur kaum mit Technik befasst habe bzw. befasst, wird (exemplarisch) gezeigt, dass es eine Fülle unterschiedlichster Einzelarbeiten gibt. Dazu ist aber sowohl von einem breiten Literatur- als auch von einem breiten Technikverständnis auszugehen: Literatur umfasst nicht nur Epik, Lyrik und Dramatik, sondern auch populärwissenschaftliche Literatur (einschließlich sogenannter „Sachbücher“ und Selbstdarstellungen bzw. Biographien) sowie wissenschaftliche Phantastik; unter Technik dürfen nicht nur die technischen Sachsysteme selbst verstanden werden, sondern es gilt auch deren Entstehungs- und vor allem deren Verwendungszusammenhänge einzubeziehen. Literarisch gespiegelt werden – so wird im Vortrag verdeutlicht – sowohl die vielfältige Wirkmächtigkeit als auch die Allgegenwart von Technik in der Lebenswelt.

Nina Hager: Verlorene Träume – Science-Fiction und Zukunftsvisionen: Wissenschaft – Technik – Gesellschaft

Phantasie und die damit verbundenen Visionen bzw. „Träume“ sind Triebkraft menschlichen Erkennen und Handelns. Phantasie gehört zu den kreativen Fähigkeiten des Menschen Es gibt keine Wissenschaft, keine technische Erfindung und schon gar keine Kunst, die ohne Phantasie möglich wären. Sie nährte über viele Jahrhunderte auch immer die Hoffnung auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen und gab Anstoß für gesellschaftliche Veränderungen. Autoren wissenschaftlich-phantastischer  bzw. SF-Literatur hatten seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts (als Reflex  auf die Industrielle Revolution und vor sich gehende gesellschaftliche Umbrüche) – wie ihre Vorgänger – daran ihren Anteil. Seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts sind in den Buchhandlungen die Regale mit der Science-Fiction-Literatur leerer geworden. Solche Bücher scheinen immer weniger gefragt, die damit verbundenen „Träume“ verlorengegangen. Neben Weltraumepen stehen viele Bücher, in denen Endzeitszenarien beschrieben werden. Aus denen folgt in der Regel kein Neuanfang. Die Träume von einer besseren Welt und von der Kraft des wissenschaftlich-technischen Fortschritts scheinen verloren. Sollten die kreativen Fähigkeiten des Menschen heute etwa erschöpft sein? Was sind die Ursachen und Folgen? Was könnte getan werden, die Glut wieder zu entfachen?

Frieder Nake: Zur Poesie von Algorithmen

Algorithmen sind zunächst einmal Texte. Das Besondere an diesen Texten ist, dass sie auch als virtuelle Maschinen aufgefasst werden können. Das macht ihren Charakter als zu einer Zeichenklas­se besonderer Art gehörig aus: Sie sind, als Texte, immer schon semiotisch zu sehen; sie sind aber darüber hinaus von einer besonderen Art von Zeichen – sie sind algorithmische Zeichen. Das soll eine erste Bemerkung im Vortrag sein, seine sozusagen informatische Aussage. Vor allem aber will ich eine gewisse Analogie zwischen den beiden Textarten Poem und Algorithmus behaupten und beleuchten. Beide sind nämlich Regeln unterworfen, mehr oder weniger. Mir scheint, dass aus solch einem Blickwinkel ein frischer Wind zum Algorithmus hin weht. Den möchte ich spürbar machen.

Claus Pias: Lesen und lesen lassen

Der Vortrag beschäftigt sich mit dem algorithmischen Verfahren der Textanalyse in den Digital Humanities. Dabei wird erstens diskutiert, welche forschungspolitischen, förderpolitischen und methodischen Implikationen solche digitalen, quantitativen Methoden haben. Zweitens werden ihre Vorgeschichte in den 1960er und 70er Jahren und der weitere historische Kontext diskutiert. Drittens wird an drei Fallbeispielen exemplarisch diskutiert, wie Autoren von Gegenwartsliteratur auf die Digitalisierung und auf digitale Forschungsmethoden reagieren.

 Gabriele Dietze: Hermeneutik des Verdachts. Wissenschaft und Kriminalroman

Die Erfindung des Kriminalromans ging Hand in Hand mit der Erfindung nicht nur der forensischen Kriminalistik, sondern mit etlichen anderen Identifizierungsverfahren in der Chemie, Medizin und der vergleichenden Anthropologie. Das gilt auch umgekehrt für die ‘Kunst der Detektion’ (auch der Symptomerkennung), die nach Carlo Ginzberg sowohl die Psychoanalyse als auch die Medizin und die Kunstgeschichte methodisch auszeichnet. Unter anderem deshalb hat die britische Pollizei ihren Ermittlungscomputer nach Sherlock Holmes auch ‘Holmes’ genannt. Der Vortrag verfolgt unterschiedliche Schnittstellen zwischen Wissenschaft, inbesondere Computerwissenschaft, und kriminalistischen Verfahren von ‘Locked Room Mysteries’ bis zum ‘Touring Test’, der hier hypothetisch als eine Versuchsanordnung zur Identifizierung künstlicher Intelligenz mittels virtuell voneinander abgeschlossenen Räumen interpretiert wird.

Thomas Macho: Programmierte Endlichkeit. Philip K. Dicks Exegesen

Philip K. Dick hat in seinem umfangreichen Lebenswerk existentielle, tech­nische, philosophische und literarische Fragen verschränkt. Sein erst 2011 herausgegebenes Tagebuch – The Exegesis of Philip K. Dick – befasst sich mit der Auslegung visionärer Erfahrungen, die Dick im Februar und März 1974 erlebt hat, mit Fragen nach Zeit, Wirklichkeit und Erinnerung, die im Stil einer anarchistischen Gnosis untersucht werden, stets in der Ungewissheit, ob sich eine Art von Erleuchtung oder ein psychotischer Schub ereignet hat. Während Dick über die Unsterblichkeit nachdachte, begann Ridley Scott mit der Verfilmung des Romans Do Androids Dream of Electric Sheep? – als Blade Runner – der um die programmierte Sterblichkeit der Replikanten kreist. Auch dieses Motiv spiegelt die Leitfragen der Exegesis; den Film selbst hat Dick, der im März 1982 starb, nicht mehr gesehen.

Das Kolloquium fand zu Ehren von Wolfgang Coy anlässlich seines 70. Geburtstags statt. Eine kurze Laudatio soll deshalb seine außerordentlichen wissenschaftlichen Verdienste unterstreichen.

Nach dem Studium der Elektrotechnik, Mathematik und Philosophie an der Technischen Hochschule Darmstadt mit dem seltenen Abschluss 1972 als Diplomingenieur der Mathematik (Dipl.-Ing. math.) promovierte er 1975 zum Dr. rer. nat. mit einer Dissertation über die Komplexität von Hardwaretests. Außerdem war er wissenschaftlich an den Universitäten Dortmund, Kaiserslautern und Paris VI tätig, wobei er sich in dieser Zeit vor allem mit Themen der Theoretischen Informatik befasst hat.

17 Jahre Universität Bremen 1979 – 1996

Wolfgang Coy hat 1979 einen Ruf an die Universität Bremen angenommen, wo er sich zusammen mit den anfangs sehr wenigen Kollegen maßgeblich am Aufbau des Studiengangs Informatik beteiligt hat. Bemerkenswert daran ist, dass über den üblichen fachlichen Kanon hinaus einige beispielhafte Besonderheiten etabliert wurden, die bis heute Bestand haben: Projektstudium als Pflichtteil des Studiums, Informatik und Gesellschaft als Pflichtfach, Interdisziplinarität in Forschung und Lehre, Betonung von praktischer und angewandter Informatik sowie studienbegleitende Prüfungen, um nur einige zu nennen.

In dieser Zeit sind neben vielen weiteren Veröffentlichungen einige Bücher entstanden, die seinen fachlichen Wandel hin zu Rechnerarchitektur, Softwaretechnik und Künstliche Intelligenz verdeutlichen, der insbesondere auch dem Lehrbedarf an der Universität Bremen geschuldet war.

W. Coy,Industrieroboter. Zur Archäologie der Zweiten Schöpfung. Berlin, 1985
W. Coy,Aufbau und Arbeitsweise von Rechenanlagen. Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg, 1988, ISBN – Zweite, überarbeitete und erweiterte Auflage 1992
Coy, L. Bonsiepen,Erfahrung und Berechnung – Kritik der Expertensystemtechnik. Berlin-Heidelberg-New York-Tokio: Springer, 1989
W. Coy, F. Nake, J.-M. Pflüger, A. Rolf, D. Siefkes, J. Seetzen, R. Stransfeld: Sichtweisen der Informatik. Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg, 1992
W. Coy, P. Gorny, I. Kopp & D. Skarpelis, Menschengerechte Software als Wettbewerbsfaktor. Stuttgart-Leipzig: B.G. Teubner, 1993
G. Cyranek und W. Coy (Hrsg.): Die maschinelle Kunst des Denkens – Perspektiven und Grenzen der KI. Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg, 1994

Die Buchauswahl verdeutlicht auch seine Hinwendung zu Fragen von Informatik und Gesellschaft sowie der Theorie der Informatik aus wissenschaftstheoretischer Sicht.

Eine besondere Initiative von Wolfgang Coy aus dieser Zeit sei noch erwähnt: die Gründung des BIGLab (Bildverarbeitungs- und Grafiklabor). Frieder Nake, er und ich, später auch Otthein Herzog, haben einige Jahre ab 1989 ein Institut gebildet, in dem es um regelmäßigen fachlichen Austausch in Fragen der Lehre und Forschung  ging und das im Gegensatz zu so vielen anderen Einrichtungen dieser Art keine Beutegemeinschaft war. Die liebevoll gestalteten Arbeitsberichte des BIGLab belegen das.

Das BIGLab war das erste Institut am Fachbereich Mathematik/Infomatik der Universität Bremen, obwohl mehrere andere Kollegen erpicht darauf waren, Institute zu gründen. Sie haben es sich aber nicht getraut, weil sie dachten, das sei verpönt – eine etwas kafkaeske Situation mit einer weit offenen Tür, durch die lange keiner ging, bis Wolfgang Coy vormachte, wie einfach es war.

17 Jahre Humboldt-Universität zu Berlin 1996 – 2013

1996 folgte er einem Ruf an die Humboldt-Universität. Er hat das Fach Informatik und Gesellschaft in Forschung und Lehre ausgestaltet mit weitgefasster gesellschaftlicher Einbettung: wissenschaftstheoretisch, sozial- und kulturgeschichtlich, medientheoretisch, ethisch und philosophisch und fachdidaktisch. Das sucht seinesgleichen, denn die meisten anderen Vertreterinnen und Vertreter des Faches verengen Informatik und Gesellschaft auf nur ein oder zwei Aspekte.

Die Bücher, die in den Berliner Jahren entstanden sind, spiegeln seine Arbeit wider:

Warnke, W. Coy, Ch. Tholen (Hrsg.), HyperKult: Geschichte,Theorie und Kontext Digitaler Medien. Basel: Stroemfeld Verlag 1997
M. Warnke, W. Coy, Ch. Tholen (Hrsg.),HyperKult II – Zur Ortsbestimmung analoger und digitaler Medien, Bielefeld: transcript-Verlag 2004
V. Grassmuck, W. Coy, Arbeit 2.0 – Urheberrecht und kreatives Schaffen in der digitalen Welt, (Print on Demand – http://edoc.hu-berlin.de/), Berlin 2009
D. Weber-Wulff, Ch. Class, W. Coy, C. Kurz, D. Zellhöfer, Gewissensbisse – Ethische Probleme der Informatik, Bielefeld 2009
W. Coy, C. Pias (Hrsg.), Powerpoint – Macht und Einfluss eines Präsentationsprogramms, Frankfurt/Main: 2009
W. Coy, P.Schirmbacher (Hrsg.), Informatik in der DDR – Tagung Berlin 2010, Berlin: Humboldt-Universität, 2010

Dass ein Hochschullehrer Bücher schreibt, ist normal. Dass ein Buch für ihn geschrieben wird, ist schon viel seltener. Viele Weggefährtinnen und Weggefährten von Wolfgang Coy haben Beiträge für den Sammelband Per Anhalter durch die Turing-Galaxis (Monsenstein und Vannerdat 2012) verfasst, der von Christian Kühne, Rainer Rehak, Andrea Knaut, Stefan Ullrich, Constanze Kurz und Jörg Pohle herausgegeben wurde. Sie sind Mitglieder der Schule der Coyanerinnen und Coyaner, die in Zukunft noch viele Zeichen setzen werden wie hoffentlich auch er selbst. All das erweist Wolfgang Coy als einen  Gelehrten der besonderen Art mit immenser Strahlkraft und richtungsweisenden Einsichten.

Hans-Jörg Kreowski

Weitere Informationen findet man auf den Webseiten:
http://waste.informatik.hu-berlin.de/coy/ und
https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang Coy