November-Sitzung der Klasse Naturwissenschaften und Technikwissenschaften; Kurzbericht

 

Theoria cum praxi et commune bonum

Die November-Sitzung der Klasse Naturwissenschaften und Technikwissenschaften am 09. November 2017 bekommt mit dem Thema

Erdbebengefährdung und seismische Überwachung der Istanbul-Marmara-Region in der Türkei: Historische Seismizität und neueste Messverfahren

durch das schwere Erdbeben im iranisch-irakischen Grenzgebiet am 12.11.2017 nachträglich noch eine nicht vorhersehbare Aktualität. Dem Referenten, Prof. Dr. Marco Bohnhoff, Leiter der Sektion 4.2 Geomechanik und Rheologie im GeoForschungsZentrum Potsdam, ist es eindrucksvoll gelungen zu zeigen, dass das Problem der Analyse der Erdebengefahr und deren Risiken in einer bestimmten Region mit umfangreichen und systematischen Beobachtungen verbunden ist, Messungen in der Region und eines tragfähigen physikalischen Modells der tektonischen Vorgänge in dem betreffenden Gebiet bedarf.  Diese Untersuchungen erfordern einen hohen messtechnischen Aufwand auf der Basis einer, mehrere Fachgebiete inhaltlich und methodisch integrierenden wissenschaftlichen Konzeption sowie –  nicht zuletzt – eine vertrauensvolle kontinuierliche internationale Zusammenarbeit.

Am Beispiel der Analyse der seismischen Gefährdung der Megastadt Istanbul und der Marmara-Region konnte im Kontext mit der aufschlussreichen historischen Seismizität gezeigt werden, wie dieser erhebliche wissenschaftliche und technische Aufwand am Ort zu wertvollen  Ergebnissen in Form konkreter wissenschaftlicher Aussagen, wichtiger sozioökonomischer und  wesentlicher  lebenspraktischer Schlussfolgerungen führt. Das erklärt die Beteiligung des Türkischen Katastrophenschutzes AFAD an dem gesellschaftlich  essentiellen Projekt. Darüber hinaus sind die Erkenntnisse von allgemeingültiger Bedeutung für die dringend notwendige Verfeinerung der Analyse- und Prognosemethoden im Bereich seismogener Störungszonen an den zahlreichen anderen gefährdeten Orten in der Welt. Wobei vor allem die Quantifizierung der Szenarien und die Nucleations-Phase der komplexen Prozesse von herausragender Bedeutung sind, um die Verläufe an kritisch geladenen Verwerfungszonen eingehender und umfassender zu verstehen, die resultierenden Risiken genauer abschätzen und sowie deren Folgen eingrenzen bestmöglich  zu können.

Entlang der nordanatolischen Verwerfungszone konnte z.B. ein Störungsabschnitt identifizierte werden (s. Präsentation, Folie 9), der zum Herdgebiet in unmittelbarer Nähe der Megastadt Istanbul gehört, und der mit großer Wahrscheinlichkeit in der näheren Zukunft zum Ort eines (statistisch überfälligen) Starkbebens mit einer Magnitude[1] größer 7 werden kann. Dieses potentielle Ereignis soll und kann auf der Basis der Vielzahl von Messergebnissen aus dem Netz des bohrlochgestützten Erdbeben-Observatoriums GONAF(s. Präsentation, Folie 10 ) genauer bewertet werden. Dafür ist zudem die Kenntnis der Bruchmechanismen in unterschiedlichen Größenmaßstäben unabdingbar, die u.a. im GFZ Potsdam systematisch untersucht werden. Der Referent und seine international kooperierende Arbeitsgruppe forschen deshalb im Labor- und Feldmaßstab. Die übergreifenden Skalen der Objekte reichen  von Gesteinsproben bis zu Plattengrenzen, Die Forscher und deren Mitarbeiter nutzen die Festkörperrheologie zum Verständnis der Dynamik und der Wirkung von Verhakungen sowie zum Erfassen der komplizierten Deformationsprozesse mit ihren Stress und Strainkomponenten. Sie exponieren die induzierte Seismizität als Schwerpunkt.

Diese erste Information über den Vortragsinhalt und den aktuellen Kenntnisstand zum Thema soll der Publikation der Vortragspräsentation dienen; es ist vorgesehen, die vollständige Textfassung in Kürze in der Internetzeitschrift Leibniz Online zu publizieren.

Mit dem Vortrag konnte der Referent nahezu kontinuierlich  an den Festvortrag unseres Mitgliedes Ali Mehmet Celâl Şengör zum Leibniz-Tag 2017 anknüpfen und für die verpflichtende Leibnizsche Sentenz Theoria cum praxi et commune bonum ein weiteres beredtes Beispiel geben.

Dem Vortrag schloss sich – unter der Leitung des Sekretars der Klasse, MLS Lutz-Günther Fleischer, eine bemerkenswerte, inhaltlich fundierte und breit gefächerte, transdisziplinäre Diskussion auf beachtenswertem wissenschaftlichen Niveau an.

Es ist nicht nur die Meinung des Moderators und des Chronisten, dass das Thema und der Referent einen ausgedehnteren Teilnehmerkreis verdient hätten. Vielleicht stellt sich ein größere Interesse (interesse – lateinisch – „dazwischen sein“, „dabei sein“, kognitive Teilnahme und Teilhabe) erst dann ein, wenn ein Erdbeben experimentell im Vortragssaal erlebt werden kann.

Lutz-Günther Fleischer und Peter Knoll


[1] Die Magnitude ist ein logarithmisches  Maß für die Stärke von Erdbeben. Magnituden werden überwiegend aus den Amplituden, seltener auch aus anderen Parametern von Seismogrammen bestimmt. Diese werden wiederum weltweit an Erdbebenmessstationen mit Seismographen aufgezeichnet. Im Gegensatz dazu ist die Intensität von Erdbeben – also ihre Auswirkungen auf Menschen, Gebäude und Landschaft – ohne Instrumente zu beobachten. Wikipedia