März-Sitzung des AK “Prinzip Einfachheit”; Bericht

Der Arbeitskreis „Prinzip Einfachheit“ führte am 22. März 2018 seine sechzehnte öffentliche wissenschaftliche Sitzung durch. Es sprach Prof. Dr. Andreas Meisel (MLS) zum Thema:

Therapie neurologischer Erkrankungen nach dem Prinzip Einfachheit

Frau Prof. Dr. Erdmute Sommerfeld (MLS) leitete die Sitzung.

Der Vortragende Prof. Dr. Andreas Meisel (MLS) beschreibt den Inhalt seines Vortrages wie folgt:

„Die moderne Therapie von Erkrankungen basiert auf dem möglichst genauen Verständnis der den Erkrankungen zugrundeliegenden pathophysiologischen Prozesse auf organismischer, zellulärer und molekularer Ebene. Daraus sich ableitende Zielstrukturen werden zur Entwicklung von möglichst spezifischen Therapien genutzt, um Krankheiten zu heilen oder Beschwerden zu lindern. Dieser Ansatz stellt eine nützliche Vereinfachung dar, der nicht nur in der Neurologie eine Vielzahl teils hocheffektiver Therapien ermöglicht hat.

Der Prozess der Entwicklung neuer Therapien ist dabei aber vor allem auch heuristischer Natur und folgt dem Ansatz “Versuch und Irrtum”. Die Erfolgschancen für eine Therapie sind teilweise selbst in späten Entwicklungsphasen nicht vorhersehbar  und daher schlecht planbar und wenig effizient. Von den potentiell wirksamen Therapieansätzen bzw. Substanzen aus den frühen Entwicklungsphasen erreicht nur ein sehr kleiner Bruchteil die Zulassung als Medikament.

Zelluläre und tierexperimentelle Krankheitsmodelle haben sich zwar in der Untersuchung pathophysiologischer Mechanismen sehr bewährt, versagen jedoch häufig in der Prädiktion der Wirksamkeit neuer Therapieverfahren beim Menschen. Zudem liegt diesem Ansatz potentiell auch die Gefahr der schädlichen Vereinfachung inne. Trotz umfangreicher vorklinischer und klinischer Testungen von neuen Therapien kommt es immer wieder zu unerwarteten teilweise schwersten Nebenwirkungen auch bei hochspezifischen Wirkmechanismen. So kann das einfache therapeutische Schlüssel-Schloss-Prinzip in hochkomplexen biologischen Systemen wie dem menschlichen Organismus mit partiell redundanten molekularen Signalkaskaden in unterschiedlichen Zelltypen neben den gewünschten Wirkungen gleichzeitig auch unerwünschte Nebenwirkungen haben.

Der einfache Ansatz, nach dem o.g. Prinzip entwickelte Therapien gezielt gegen Erkrankung bzw. Beschwerden einzusetzen, gerät auch aus einem weiteren Grund konzeptionell an seine Grenzen. Die zunehmenden Möglichkeiten, eine Vielzahl von Krankheiten und Beschwerden gezielt zu behandeln, führt immer häufiger dazu, dass eine Vielzahl von verschiedenen Therapien bei Menschen gleichzeitig eingesetzt werden. Multimorbidität in unserer älter werdenden Gesellschaft führt damit regelhaft zur Polypharmazie, deren Auswirkungen auch im Zeitalter der Evidenz-basierten Medizin wenig verstanden sind. Zwar werden die Therapien jeweils im Rahmen randomisiert-kontrollierter Studien geprüft, multimorbide Patienten werden im Sinne der Vereinfachung jedoch regelhaft ausgeschlossen. Für die klinische Praxis gilt dann die vereinfachende Annahme, dass die Wirksamkeit jeder einzelnen Therapie unabhängig von den anderen Therapien und der Multimorbidität erhalten und ohne schädliche Folgen bleibt. Erfolge und Misserfolge sowie Chancen und Risiken dieses vereinfachenden Ansatzes werden Gegenstand des Vortrages sein.“

Der Beitrag war ein lehrreicher Ausflug in die gegenwärtige Problematik der Therapie von neurologischen Erkrankungen.

In der Diskussion ging es zunächst um die für den Arbeitskreis zentrale Frage nach den Voraussetzungen für ein Prinzip Einfachheit. Auf Komponenten, die für eine Vereinfachung in der Therapie notwendigerweise erfüllt sein sollten, wie eine gut aufgeklärte Kausalkette, die Nutzung von Biomarkern oder die individualisierte Medizin wurde hingewiesen, dennoch stand der Gedanke im Raum, dass es sich hier um eine dialektische Einheit von Einfachheit und Komplexität handelt, die das Herausschälen von Voraussetzungen für bzw. die Schaffung von Voraussetzungen für ein Prinzip Einfachheit nicht leicht macht.

Vereinfachung ist eine Funktion von Risiko und Nutzensabwägung, ist eine Funktion der Lebensqualität des Individuums, muss wissenschaftlich berechtigt und humanistisch vertretbar sein, unterliegt ethischen Problemen.

Aber auch anderweitig interessierende Fragen wurden erörtert wie z.B. die nach einer Ganzheitsmedizin, nach dem Verhältnis zwischen Medikamentenwirkung und Medikamentenentwicklung, nach der Wechselwirkung zwischen  Medikamenten, nach neueren Methoden zur Leistungsverbesserung nach Schlaganfall, nach der Doppelrolle des Arztes als Helfer und Unternehmer u.a.m.

Die nächste Sitzung des Arbeitskreises „Prinzip Einfachheit“ findet am 18.10.2018 statt. Es spricht Frau Prof. Dr. Erdmute Sommerfeld (MLS) zum Thema „Schaffung von Voraussetzungen für Einfachheit: Ein Grundprinzip nicht nur in der menschlichen Informationsverarbeitung?“.

Werner Krause (MLS)