Jahrestagung 2017 MIGRATION UND INTERKULTURALITÄT am 5. Oktober 2017

 

Jahrestagung der Leibniz-Sopzietät der Wissenschaften 2017 

MIGRATION UND INTERKULTURALITÄT 

Theorien – Methoden – Praxisbezüge

 Bericht

Eröffnung der Jahrestagung durch den Präsidenten

Abb. 1: Prof. Dr. Gerhard Banse, Präsident der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e. V

Der Präsident der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e. V., Herr Prof. Dr. Gerhard Banse (MLS)[1], eröffnete die Jahrestagung 2017 „Migration und Interkulturalität. Theorien – Methoden – Praxisbezüge“, die im Medizincampus Berlin-Buch, Max Delbrück Communications Center, stattfand. In seiner Eröffnungsrede machte er darauf aufmerksam, dass die Thematik von hoher Aktualität ist. Der massenhafte Zustrom von Menschen aus Nordafrika und dem Nahen Osten nach Europa und insbesondere nach Deutschland sei das Ergebnis einer seit Jahrzehnten verfehlten Weltpolitik und durch lebensbedrohliche Bedingungen in bestimmten Regionen infolge kriegerischer Auseinandersetzungen in der jüngsten Vergangenheit verursacht worden. Darüber hinaus gebe es das Nord-Süd-Wohlstandsgefälle und unfaire Handelsbeziehungen sowie klimatisch bedingte Ursachen, etwa Dürren oder Überschwemmungen, so dass die Zahl der Menschen auf der Flucht mit mehr als 65 Millionen Frauen, Männern und Kindern – das sind fast ein Prozent der Weltbevölkerung! – einen Höchststand erreicht habe. Noch sei unklar, welchen Beitrag jeder einzelne Bürger in Deutschland für die Beseitigung der Fluchtursachen leisten kann und muss. Die Leibniz-Sozietät der Wissenschaften kann und will dabei nicht abseits stehen. Er berichtete von den zahlreichen Initiativen und Aktivitäten von Mitgliedern der Sozietät, die – vorerst – in der heutigen Tagung kulminierten und betonte, dass im Rahmen der Leibniz-Sozietät als interdisziplinäre Gelehrtengesellschaft wichtige Beiträge zur Erforschung des Phänomens „Flüchtlingskrise“ geleistet werden können, um Missverständnisse in der Bevölkerung auszuräumen, Probleme zu erhellen, Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen und wissenschaftlich fundierte Argumente gegen das zunehmend fremdenfeindliche Klima in unserem Land zur Verfügung zu stellen. Einen besonderen Dank sprach der Präsident dem Staatssekretär für Integration, Herrn Daniel Tietze, für die Bereitschaft zu einführenden Darlegungen „Zur aktuellen Flüchtlingssituation in Berlin“ aus. Weiterhin bedankte er sich bei Frau PD Dr. Kerstin Störl (MLS), Sekretarin der Klasse für Sozial- und Geisteswissenschaften, für die inhaltliche Vorbereitung, beim Sekretar des Plenums, Herrn Prof. Dr. Heinz-Jürgen Rothe (MLS), für die organisatorische Absicherung und bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung für die finanzielle Förderung der Veranstaltung.

Begleitheft der Veranstaltung

 

Abb. 2: Auditorium

Die aktuelle „Flüchtlingskrise“ – ihre Reflexion in Politik und Gesellschaft

Die Jahrestagung bestand aus vier thematischen Blöcken. Der erste war dem Thema „Die aktuelle „Flüchtlingskrise“ – ihre Reflexion in Politik und Gesellschaft“ gewidmet und wurde von Herrn Prof. Dr. Jürgen Hofmann (MLS), dem Stellvertretenden Sekretar der Klasse für Sozial und Geisteswissenschaften, moderiert.

Abb. 3: Daniel Tietze, Staatssekretär für Integration, Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales

Als ersten Redner konnten wir den Staatssekretär für Integration, Herrn Daniel Tietze von der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales, begrüßen, der zur aktuellen Flüchtlingssituation in Berlin sprach. Er präsentierte aktuelle Fakten und Zahlen, analysierte politische Diskurse und berichtete von Erfolgen, die bei der Bewältigung schwieriger Situationen bereits errungen wurden. Probleme, die noch anstehen, sind der Familiennachzug, das Fehlen psychologischer Betreuung und der schwierige Zugang der Geflüchteten zum Wohnungsmarkt. Nicht zu akzeptieren seien die Unterschiede, die für die Geflüchteten aus verschiedenen Ländern in Bezug auf das Integrationsangebot gemacht werden, da es ein Grundrecht auf Asyl gibt. Es werde an der Verbesserung der humanitären Situation der Unterbringung gearbeitet. Die Versorgung der Geflüchteten in schnell zu errichtenden Wohngebäuden (modularen Unterkünften für Flüchtlinge) sowie integratives Wohnen werde angestrebt. Herr Tietze betonte, dass ein Großteil der Geflüchteten Fachkräfte sei und Berlin Fachkräfte brauche. Der Staatssekretär plädierte dafür, den Begriff „Geflüchtete“ weiter zu fassen und ihn im Sinne von allen „Menschen, die hier her gekommen sind“ zu verstehen.

Abb. 4: Vorstellung des AWO-Refugiums Buch. Links Herr Mohamad Hadj Ali, rechts Frau Juliane Willuhn

 

Im Anschluss präsentierte Frau Juliane Willuhn, die Einrichtungsleiterin vom „AWO Refugium Buch“ in Berlin-Buch, die von ihr geleitete Flüchtlingsunterkunft, mit einigen Fotos und Informationen zur Wohnsituation der Geflüchteten, und stellte Herrn Mohamad Haj Ali vor, der in dieser Einrichtung wohnt. Herr Haj Ali aus Aleppo (Syrien) sprach in sehr berührender Weise über seine persönliche Situation und gab damit viele Denkanstöße, die das Publikum dazu anregte, den eigenen kulturellen Hintergrund zu überschreiten und zu versuchen sich in die Situation der Geflüchteten hinein zu versetzen. Insbesondere wurde sein Wunsch deutlich, neben humanitärer und organisierter Hilfe vor allem mit den Menschen in Deutschland in einen freundschaftlichen und herzlichen Kontakt zu treten.

 

 

 

Abb. 5: Frau Juliane Willuhn, Einrichtungsleiterin des „AWO-Refugiums Buch“ und Herr Mohamad Hadj Ali, Geflüchteter aus Aleppo, Syrien

In der anschließenden Diskussion wurden sowohl der Staatssekretär als auch Herr Haj Ali befragt. Die Tagungsteilnehmer(innen) interessierten sich dafür, welchen Beitrag die Wirtschaft zur Integration leistet, wie sich die Beziehung zwischen Demokratie und Integration gestaltet, wie die Anhörungsverfahren zur Anerkennung potentieller Geflüchteter laufen und wie die persönliche Kontaktaufnahme zwischen Geflüchteten und der einheimischen Bevölkerung funktionieren könnte. Frau Willuhn hinterließ die Kontaktdaten des Refugiums und betonte, dass sich die Bewohner sehr über Besuch freuen würden.

Interkulturalität und die mediale Reflexion der „Flüchtlingskrise“ in Deutschland

Im zweiten thematischen Block ging es um die beiden Themen „Interkulturalität“ und „Die mediale Reflexion der ‚Flüchtlingskrise‘ in Deutschland. Moderator war Herr Prof. Dr. Heinz-Jürgen Rothe (MLS), Sekretar des Plenums der Leibniz-Sozietät. Zunächst stellte Frau PD Dr. Kerstin Störl (MLS) in einer kurzen Einführung, „Theoria cum praxi“, die Verbindung zwischen dem vorangehenden praktischen Teil und den nun folgenden wissenschaftlichen Vorträgen her.

Abb. 6: PD Dr. Kerstin Störl, Klassensekretarin für Sozial- und
Geisteswissenschaften der Leibniz-Sozietät

Anschließend hielt sie einen interdisziplinären Vortrag zum Thema „Migrationsbedingte konfliktive mentale Repräsentationen und der Versuch interkultureller Kommunikation“. PD Dr. Kerstin Störl ist Linguistin und Romanistin, mit interdisziplinären Bezügen zur Lateinamerikanistik, Altamerikanistik sowie zur Kultur- und Kommunikationswissenschaft. In ihrem Vortrag betrachtete sie die sogenannte „Flüchtlingskrise“ als Kulturkontaktsituation. Ausgehend von kultureller Hybridisierung, die unter anderem durch Sprachkontaktphänomene zum Ausdruck kommt, untersuchte sie die migrationsbedingt aufeinander prallenden kulturell variablen mentalen Repräsentationen. Für die Analyse bezog sie Erkenntnisse der Frame-Theorie und der Systemtheorie ein und ging der Frage nach, wie angesichts sich widersprechender Konzepte interkulturelle Kommunikation möglich ist und wie in der Praxis mit dem Problem der konzeptuellen Bifurkationen und der Nichtlinearität umgegangen werden kann. Ihre Aussagen wurden durch Beispiele aus verschiedenen Kulturen, sowohl der Geflüchteten als auch anderer, untermauert.

Abb. 7: Prof. Dr. Dorothee Röseberg, Vizepräsi-
dentin der Leibniz-Sozietät

Als nächste Referentin sprach Frau Prof. Dr. Dorothee Röseberg (MLS), Romanistin und Kulturwissenschaftlerin sowie Vizepräsidentin der Leibniz-Sozietät. Sie ist bekannt durch ihre Studien zur Interkulturalität, Fremdheit und zu transnationalen Beziehungen, vor allem im französischsprachigen Bereich, auf Grund derer sie 2015 vom französischen Staat mit den Palmes Académiques in der Offiziersklasse ausgezeichnet wurde. Frau Prof. Dr. Röseberg sprach zum Thema „Das Fremde als Anspruch“, wobei es um die Frage ging, welche wissenschaftlichen Ansätze die Interkulturalitätsforschung für das Thema „Fremdheit / Fremderfahrung“ bislang bereitstellte. Verschiedene prominente Richtungen der internationalen Forschung wurden auf diese Frage hin beleuchtet, um anschließend ausgewählte, besonders ertragreiche, Konzepte näher zu betrachten. Sie plädierte dafür, Fremdheit / Fremderfahrung zu zentralen Kategorien der Interkulturalitätsforschung zu erheben. Die von Frau Prof. Dr. Röseberg vorgestellten Ansätze, die insbesondere im Bereich der Phänomenologie und der Systemtheorie lagen, wurden auf die aktuelle Flüchtlingssituation angewandt, wobei die Fremderfahrungen der Geflüchteten thematisiert wurden. Sie kam zu der Schlussfolgerung, dass ein reflektierter Umgang mit Fremderfahrung eine humane Schlüsselkompetenz sei.

Abb. 8: Prof. Dr. Michael Haller

Herr Prof. Dr. Haller hielt auf der Tagung einen Vortrag zum Thema „Lügen? Aufklären? Vernebeln? Über das Scheitern des Mediendiskurses während der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/16“. Prof. Dr. Michael Haller ist wissenschaftlicher Direktor des Europäischen Instituts für Journalismus- und Kommunikationsforschung (EIJK) und hatte bis zu seiner Emeritierung 2010 den Journalistik-Lehrstuhl an der Universität Leipzig inne. Er forschte vorwiegend zur Redaktions- und Qualitätsforschung (Print und Online) sowie zur Berufs- und Medienethik. Bis Ende 2016 leitete er die Journalismusforschung an der Hamburg Media School (HMS), wo er eine Studie über die Flüchtlingsberichterstattung durchführte.[2] In einer großangelegten Untersuchung hatten Michael Haller und sein Forscherteam die mediale Begleitung des Flüchtlingsthemas minutiös untersucht. In seinem Vortrag zeigte er, wie es dazu kam und was es bedeutet, dass die Medien von der Rolle des kritischen Beobachters in die des politischen Akteurs wechselten. Er zeigte, dass die Ansprüche an die Presse wie umfassende Information, Meinungsvielfalt, Ausgewogenheit und Unparteilichkeit im Falle des Flüchtlingsthemas keineswegs gewahrt wurden und wies nach, dass die Geflüchteten selbst in der Berichterstattung kaum vorkamen. Als Akteure der Flüchtlingsberichterstattung seien eher Parteien, Politiker, Institutionen, Behörden oder soziale Einrichtungen genannt worden. Die Informationsüberflutung sei von den tatsächlichen Flüchtlingsströmen abgekoppelt gewesen und habe eine Verängstigung sowie eine Spaltung der einheimischen Bevölkerung in wohlmeinende Helfer einerseits und Verweigerer bzw. Andersdenkende andererseits ausgelöst. Der Diskurs der Verständigung sei unterbrochen.

In der anschließenden Diskussion zu allen drei Vorträgen wurde zunächst (zum Vortrag von Frau Störl) zu Bedenken gegeben, dass die im 17. Jahrhundert ins Deutsche gelangten französischen Entlehnungen auf Grund des höheren Prestiges dieser Sprache damals leichter akzeptiert wurden als die heutigen sprachlichen Einflüsse der Sprachen der Geflüchteten im Deutschen. Es wurden weiterhin Fragen zum Thema der Willkommensklassen gestellt und auf die internationalen Erfahrungen im DaZ-Bereich[3] hingewiesen. Zum Vortrag von Frau Röseberg wurde nach dem Begriff der ‚Exotik‘ gefragt, der ihrer Meinung nach – im Gegensatz zur Fremderfahrung – keine Überschreitung darstellt. Herrn Haller wurde die Frage nach den Gründen falscher oder unangemessener Information in den Medien gestellt, zu deren Beantwortung keineswegs eine monokausale Erklärung angeführt werden kann. Eine Rolle spielten unter anderem informelle Netzwerke sowie eine starke Beeinflussung von Themen – auch nichtpolitischer wie Kultur oder Armut – durch die Politik. Es wurde deutlich, dass Spezialisten bei der Berichterstattung nur selten zu Wort kommen. Ein wichtiger Punkt, der in der Diskussion angesprochen wurde, war, dass in der Gesellschaft die Probleme „vor den Haustüren der Menschen“ nicht zur Kenntnis genommen werden, weshalb diese dann fremdenfeindlich reagieren oder sich politischen Gruppierungen anschließen, die sie selbst eigentlich gar nicht vertreten.

Kulturspezifische Analysen interkultureller Begegnungen und Konflikte

Der dritte thematische Block war „Kulturspezifischen Analysen interkultureller Begegnungen und Konflikte“ gewidmet. Stellvertretend für die immense kulturelle Vielfalt der geflüchteten Menschen kamen nun spezifisch regionale Themen wie „Afrika“ und „Islam“ zur Sprache, mit allgemeinem theoretischem Anspruch. Dieser Block wurde moderiert von Frau PD Dr. Kerstin Störl (MLS).

Abb. 9: Prof. Dr. Dr. Jacob Emmanuel Mabe

Der kamerunische Philosoph und Politikwissenschaftler Prof. Dr. Dr. Jacob Emmanuel Mabe, der sich insbesondere der interkulturellen Philosophie widmet, war Präsident der Deutschen Gesellschaft für französischsprachige Philosophie (bis 2011) und ist zurzeit Präsident der Anton-Wilhelm-Amo-Gesellschaft e.V. sowie Autor von über 100 Veröffentlichungen. Dazu gehören „Das Afrika-Lexikon“ (2001/2004) und „Denken mit dem Körper – Eine kleine Geistesgeschichte Afrikas“ (2010), eine Schrift, durch die der Leser angeregt werden soll, Vorurteile über Afrika abzubauen und vertraute Sichten in Frage zu stellen. Auf der Tagung sprach er über das Thema „Grundproblem der Interkulturalität: Internationale Migration und Rassismus“. Angesichts der aktuellen Migrationsströme existiere in Deutschland eine übermäßige Angst vor Überfremdung, die sich in manchen Fällen zum radikalen Rassismus gewandelt habe. Dass aber die Zugezogenen der Angst der Einheimischen mit schwer rechtfertigbaren Gewaltakten begegnen, sei interkulturell ebenso nicht hinnehmbar wie der Fremdenhass. Laut Mabe habe die Interkulturalität eine anthropologische Grundlage im Sinne des Respekts gegenüber allen Menschen, und der Rassismus sei die Verleugnung des allgemeinen Menschseins. Herr Prof. Dr. Dr. Mabe nahm die aktuelle Realität in Deutschland zum Anlass, um ein umfassendes Lernkonzept vorzustellen, das allen deutschen Bevölkerungsgruppen helfen kann, sich mit den vielfältigen Herausforderungen der Migration vertraut zu machen. Denn die Bundesrepublik Deutschland habe sich grundlegend verändert und könne sogar zu einer Heimat ohne Beispiel für geflüchtete Menschen aus Ost- und Westdeutschland, Ost- und Mitteleuropa, Afrika, Amerika, Asien etc. werden, vorausgesetzt, dass der Geist der Toleranz und der Vielfalt nicht demontiert, sondern konsequent gefördert wird.

Abb. 10: Prof. Dr. Monika Walter

Prof. Dr. Monika Walter sprach als zweite Referentin des Blocks. Sie ist Romanistin und Literaturwissenschaftlerin. Zu Ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Literatur des Siglo de Oro in Spanien, der frühe spanischer Kolonialdiskurs im 16. Jahrhundert, Literaturen Chiles, Kubas sowie der karibischen und maghrebinischen Frankophonie und Theorien des Postkolonialismus. Für die Thematik der Tagung waren besonders ihre Studien zur Islamgeschichte und ihrer Aufarbeitung in der Romania von 711 bis in die Gegenwart von Interesse. Sie mündeten in die Monographie „Der verschwundene Islam? Für eine andere Kulturgeschichte Westeuropas“ (2016). Das Thema ihres Referats war „Muslime als Europäer? Zur Vorgeschichte der aktuellen Integrationsdebatte“. Erst seit einigen Jahrzehnten habe eine westeuropäische Debatte um eine innereuropäische Islamgeschichte erste Standardwerke hervorgebracht. Vor allem in Spanien und Frankreich sind diese Forschungen unter ähnlich klingenden Formeln („unbehagliche Geschichte“/„histoire-problème“) gebündelt worden. Darin fordern Wissenschaftler zu einem historisch vertieften Nachdenken über das nationale Spaniertum oder Französischsein auf, mit dem in den jeweiligen Nationalgeschichten die so aktuelle Frage nach der Unvereinbarkeit eines christlich-jüdischen Westeuropas mit dem Islam auf eine neue und komplexe Weise beantwortet werden kann. Der Vortrag führte in die Gründe für eine solche „Blindheit“ gegenüber dieser europäischen Kulturgeschichte des Islam ein. Mit der Analyse der Islamgeschichte in Europa und der Beleuchtung von Phänomenen wie der christlichen tolerancia, dem Schutz gegenüber den Arabern zu Zeiten des spanischen Königs Alfonsos X. el Sabio (13. Jh.), zeigte Frau Prof. Dr. Walter Möglichkeiten der gegenseitigen Toleranz zwischen Islam und westeuropäischen Kulturen, die es im Mittelalter schon gegeben hat, und deren Kenntnisnahme zur Lösung der heutigen Missverständnisse gegenüber dem Islam im Zuge der aktuellen Migration beitragen könnte.
Es folgte eine Diskussion zu den vorangehenden beiden Vorträgen, in der sehr heftig über den Rassismus diskutiert wurde. Herr Prof. Dr. Dr. Mabe erklärte, dass dieser im Hass wurzele und seinen Ursprung in Sklaverei und Kolonialismus habe. Seit 200-300 Jahren sei besonders der Rassismus zwischen „schwarzen“ und „weißen“ Menschen ausgeprägt gewesen sowie Verleugnung, Abneigung und Misstrauen gegenüber „Schwarzen“. Die aktuelle Migration sei in den letzten Jahren „rassialisiert“ worden, indem im Fernsehen vorwiegend dunkelhäutige Flüchtlinge gezeigt worden seien. Das Erbe des Sklavenhandels und Kolonialismus würde also immer noch wirken. Über die Humanitätsfrage könne man laut Mabe den Rassismus und die „Rassialisierung“ der Migration nicht lösen. Frau Prof. Dr. Walter sowie einige Diskussionsteilnehmer aus dem Publikum machten darauf aufmerksam, dass es rassistische Verhaltensweisen nicht nur gegenüber dunkelhäutigen Menschen, sondern auch gegenüber „Weißen“ gibt, die einer anderen Ethnie als der eigenen angehören. Aber nicht nur das Kriterium der Hautfarbe sei Grundlage des Rassismus, sondern andere Merkmale können ebenfalls Gegenstand von Ausgrenzung sein. Es wurde deutlich, dass das Thema „Rassismus“ einer weiterführenden Diskussion und Durchleuchtung bedarf.

Integration und Deutsch als Zweitsprache (DaZ)

Der vierte und letzte Vortragsblock der Tagung war dem Thema „Integration und Deutsch als Zweitsprache (DaZ)“ gewidmet und wurde von Frau Prof. Dr. Angela Richter (MLS), Stellvertretende Sekretarin der Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften, moderiert.

Abb. 11: Prof. Dr. Dr. Klaus Frieder Sieber

Der erste Vortragende war Herr Prof. Dr. Dr. h.c. Klaus Frieder Sieber (MLS), Spezialist auf den Gebieten Bauingenieurwesen und Wasserwirtschaft. Von der Universität für Architektur und Bauwesen St. Petersburg, an der er sich habilitierte, hatte er 1993 den Ehrendoktortitel für sein nationales und internationales Engagement erhalten. 2015 wurde er zum Vorsitzenden des Leibniz-Instituts für interdisziplinäre Studien e.V. (LIFIS) gewählt. Der Beitrag von Herrn Prof. Dr. Dr. hc. Klaus Frieder Sieber war ein Bericht aus der Praxis zum Thema „Integration bedeutet Sprache, Sprache, Wohnung und Arbeit“. Er basierte auf den Erfahrungen, die das LIFIS mit seinen Kooperationspartnern bei der Vermittlung der deutschen Sprache sowie von kulturellen Fragen und Werten im Zusammenleben in verschiedenen Flüchtlingsheimen seit dem 4.11.2015 gemacht haben. Problematisch sei ein verzerrtes Deutschlandbild gewesen, was durch die Kombination aus Fernsehnutzung, dem Konsum internationaler Medien und den Informationen aus dem Internet erklärt werden könne. Wunschbilder würden durch die selektive Nutzung der in diesen Medien angebotenen Inhalte offensichtlich verstärkt und überlagerten reine Fakteninformation. Nach 600 Stunden Deutschunterricht und 100 Stunden Vermittlung deutscher Werte, der Geschichte der Bundesrepublik und des Gesetzes legten die Flüchtlinge einen Sprachtest sowie eine Prüfung mit dem Titel „Leben in Deutschland“ ab, wie Herr Sieber erklärte. Wer diesen Test und die Sprachprüfung mit dem sogenannten B1-Niveau bestehe, dürfe im Alltag gut zurechtkommen und ein Verständnis dafür haben, welche Werte in Deutschland wichtig sind. Das BAMF habe die Zahl der Deutschkurse zwar deutlich erhöht, doch Flüchtlinge konkurrierten mit anderen Ausländern um Plätze. Weil Afghanen keine gute Bleibeperspektive haben, würden sie nachrangig behandelt, wenn es um die Integrationsbemühungen geht. Kennzeichnend sei, dass die überwiegende Zahl der Flüchtlinge keine, keine qualitativ gute oder eine nicht abgeschlossene Berufsausbildung besitzt. Das Verständnis, dass ein Berufsabschluss viel Anstrengung und viel Zeit erfordert, sei nicht ausgeprägt.

Abb. 12: Prof. Dr. Winfried Thielmann und Dr. Uta Großmann

Es schloss sich ein Vortrag von Prof. Dr. Winfried Thielmann, Inhaber der Professur Deutsch als Fremd- und Zweitsprache an der Technischen Universität Chemnitz, und seiner wissenschaftlichen Mitarbeiterin, Frau Dr. Uta Großmann, an. Zu den Schwerpunkten der genannten Professur in Forschung und Lehre gehören die Linguistik des Deutschen aus der Fremdperspektive, Interkulturelle Kommunikation, Zweitspracherwerbsforschung (Sprachstandserhebung und Sprachförderung) und Fehlerkorrektur/-bewertung DaZ. Das Tagungsthema war: „Differenzierte Sprachstandsermittlung und -förderung von DaZ-Schülern während des Unterrichtsgeschehens. Das Sprach-Können im Fokus der Bewertung“. Die beiden Referent(inn)en stellten fest, dass es zu den Paradoxien des gegenwärtigen Sprachvermittlungsgeschehens im DaZ-Bereich gehört, dass trotz der vielen wertvollen und inzwischen recht belastbaren Ergebnisse der Zweitspracherwerbsforschung Didaktik und Methodik des Unterrichts noch sehr stark von muttersprachlichen Erwartungshorizonten überformt sind. Die zum Einsatz kommenden Lehrwerke seien in didaktischer Hinsicht meist ebenso wenig an den Erkenntnissen zum Spracherwerb orientiert wie die Lehrpläne. In Sachsen beispielsweise solle das sprachliche Vermögen von Schülern zwar mit einem Diagnoseinstrument erhoben werden, das zumindest zum Teil durch die Erkenntnisse der Zweitspracherwerbsforschung informiert ist; die Lehrpläne seien hingegen rein muttersprachen-didaktisch basiert. Vor diesem Hintergrund war es das Anliegen dieses Vortrags, die Leistungsfähigkeit der empirisch basierten Profilanalysen nach Grießhaber (2005, 2013) anhand authentischer Texte und Diskurse zu demonstrieren. Denn dieses Instrument sei nicht nur dazu geeignet, Sprachstände und Förderhorizonte differenziert zu ermitteln, sondern es ist auch Rückgrat einer auf den faktischen Sprachstand des Lerners bezogenen Fehleranalyse und Fehlerkorrektur, die das Erreichte würdigt und vor allem diejenigen Bereiche fokussiert, die der Lerner bereits kontrollieren kann bzw. mit deren Aneignung er gerade befasst ist.

Im Vortrag und in der anschließenden Diskussion kam zum Ausdruck, dass sich die topologische Satzstruktur des Deutschen, die kaum in anderen Sprachen vorhanden ist, hervorragend für die Einschätzung des Sprachstandes eignet. Leider würden aber gängige Lehrwerke an den Willkommensklassen diese neuesten Erkenntnisse noch nicht einbeziehen, oft aus verlagstechnischen Gründen. Es würde zu wenig beachtet, dass Fehler das notwendige Produkt des Spracherwerbs sind. Die Referenten zeigten am praktischen Beispiel, wie Fehler unterschiedlich, je nach Sprachniveau, korrigiert werden können, um dem Lerner den Mut nicht zu nehmen. Wenn er nach muttersprachlichen Kriterien korrigiert wird, fossilisiere er sein Niveau, indem er alle darüber hinaus gehende Strukturen vermeidet.

In der Diskussion meldeten sich auch Praxisvertreter zu Wort, die in Willkommensklassen unterrichten. Es wurde die Notwendigkeit deutlich, den DaZ-Lehrer(inne)n die neuen und praktikablen Ergebnisse der Wissenschaft, zugänglich zu machen, da sie ihrer dringend bedürfen. Eine Publikation von den beiden Referenten wird in Kürze dazu erscheinen.

Begleitende Ausstellung „Über(s)leben – Newcomer erzählen ihre Geschichte“

Abb. 13: Ausstellung „Über(s)leben – Newcomer erzählen ihre Geschichte“ (Zusammenstellung: K. Störl und P. Hübner)

Eine thematische Bereicherung der Tagung war eine begleitende Ausstellung, die Herr Dr. Peter Hübner, Geschäftsführer der „Stiftung der Freunde der Leibniz-Sozietät“ initiiert hatte. Auf fünfzehn Aufstellern, zusammengestellt von Potsdamer Stipendiat(inn)en der Stiftung der deutschen Wirtschaft, unter der Leitung von Frau Regina Burchardt, wurden unter dem Titel „Über(s)leben – Newcomer erzählen ihre Geschichte“ Schicksale geflüchteter Menschen in Berlin und Brandenburg gezeigt und ganz persönliche Fluchterfahrungen beschrieben. Zu jeder Geschichte lieferten Hintergrundinformationen einen Blick auf das jeweilige Herkunftsland. Ziel der Ausstellung war es, für mehr Sensibilität zu werben und das Einzelschicksal stärker in den Blick zu nehmen. Für die zahlreichen Teilnehmer und vor allem für den Vertreter des Senats von Berlin, Herrn Staatssekretär Daniel Tietze, waren die gut zusammengestellten Informationen sehr anregend und zugleich beeindruckend.

Schlusswort und Abschluss der Tagung 

Das Schlusswort sprach die Vizepräsidentin, Frau Prof. Dr. Dorothee Röseberg. Sie hob dabei insbesondere drei Punkte hervor:

  1. Die Tagung ist ein außerordentlich gelungenes Beispiel, wie Wissenschaft, Politik und gesellschaftliche Praxis in einen produktiven Dialog treten können. Die offene und lebhafte Diskussion spiegelte den enormen Erklärungs- und Handlungsbedarf zu diesem Thema.
  1. In der Tagung wurde deutlich, dass es verschiedene Verständnisweisen von Integration gibt. Die eine – die den öffentlichen Diskurs in unserer Gesellschaft weitgehend bestimmt – versteht Integration als Einbindung von Geflüchteten oder Migranten in bestehende Ordnungsstrukturen unserer Gesellschaft. Hierfür steht in der wissenschaftlichen Literatur auch der Begriff Assimilation. Eine andere Auffassung, die in der Tagung von Herrn Mohamad Hadj Ali überzeugend zum Ausdruck gebracht wurde, versteht Integration als einen Prozess des Nehmens und Gebens. Hierbei ist mitzudenken, dass sich unsere Gesellschaft durch Flucht und Migration verändern wird. Dieser Aspekt der gesellschaftlichen Transformation ruft gegenwärtig ganz gegensätzliche Reaktionen hervor. Bestimmte Formen des Rassismus, die in der Tagung zum Teil kontrovers diskutiert worden sind, haben auch mit Ängsten vor Veränderungen zu tun.
  1. Wie die Diskussion zeigte, steht das Problem der Integration in engstem Zusammenhang mit zwei anderen zentralen Fragen: dem er Identität und der Interkulturalität. Insbesondere zum Thema Interkulturalität erbrachten die Beiträge neue Impulse für die Praxis und für die Forschung. Es wurde deutlich, dass sich im Thema Identität die Krise nationaler Verständnisse kollektiver Identität angesichts globaler Vernetzungsprozesse wie in einem Brennglas bündelt.
Abb. 14: Gespräche zwischen Wisssenschaftlern und Praxisvertretern beim Buffet

Anschließend gab es einen Empfang, der Gelegenheit für weitere Gespräche unter den Fachkollegen sowie mit den Praxisvertretern bot. Die eingeladene syrische Musikgruppe Orphé konnte auf Grund des starken Sturmes nicht anreisen.[4]
Die Ergebnisse der Tagung werden in dem Sammelband „Migration und Interkulturalität. Theorien – Methoden – Praxisbezüge“ beim Wissenschaftsverlag Peter Lang veröffentlicht. Bandherausgeberin ist Frau PD Dr. Kerstin Störl.

 

PD Dr. Kerstin Störl
Sekretarin der Klasse für Geistes- und Sozialwissenschaften
(Fotos: Fotos 1-12, 14: Heidi Lehmann)

Die Veranstaltung wurde durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördert.

Fußnoten:
[1]    MLS: Mitglied der Leibniz-Sozietät zu Berlin e. V.
[2]     Bei Interesse kann diese Studie („Die ‚Flüchtlingskrise‘ in den Medien“) heruntergeladen werden auf: https://www.otto-brenner-stiftung.de/otto-brenner-stiftung/aktu-elles/die-fluchtlingskrise-in-den-medien.html.
[3]   DaZ: Deutsch als Zweitsprache.
[4]     Interessenten können sich hier ihre Musik anhören: https://soundcloud.com/orphe-766510580.