10. Sitzung des Arbeitskreises „Prinzip Einfachheit“; Bericht

Die Sprecherin des Arbeitskreises (AK) Erdmute Sommerfeld begrüßte am. 26.03. 2015 zur 10. Sitzung Altpräsident Dieter B. Herrmann als Vortragenden und den interdisziplinär zusammengesetzten Teilnehmerkreis von 27 Interessenten. Sie wies auf einige für das Thema wichtige Publikationen, wie „Urknall im Labor“ und entsprechende Vorträge von Dieter B. Herrmann hin, die sich mit der Geschichte kosmischer Physik und aktuellen Entdeckungen befassten.

In seinen interessanten und auch für Nicht-Spezialisten verständlichen Ausführungen befasste sich der Referent mit der Frage: Sind die Standardmodelle der Kosmologie und Elementarteilchenphysik falsch, weil sie zu kompliziert sind? Antworten suchte er sowohl in der Geschichte als auch in den aktuellen Auseinandersetzungen. So wurde an Hand historischer Fallbeispiele aus Kosmologie und Elementarteilchenphysik versucht, zu klären, ob „Einfachheit“ tatsächlich ein tragfähiges Prinzip darstellt, das zur Entscheidung über „Richtig“ und „Falsch“ bei der naturwissenschaftlichen Hypothesenbildung geeignet ist. Die Analyse der Entwicklung vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltsystem ebenso wie die Versuche, Strukturen des Planetensystems durch „harmonische Grundannahmen“ zu erfassen, aber auch der Weg vom „Teilchenzoo“ der Elementarteilchenphysik zum gegenwärtigen Bild der Elementarteilchenphysik führen, so der Autor, zu der Überzeugung, dass „Einfachheit“ kein Wahrheitskriterium sein kann. Die heuristische Bedeutung von „Einfachheit“ für die Forschung wird davon jedoch nicht berührt. Allerdings zeigen historische Beispiele, dass auch die Suche nach „einfachen Lösungen“ nicht immer ein zuverlässiger Ratgeber ist. Das zeigen auch, wie im Vortrag belegt, aktuelle Diskussionen. Die heutigen Standardmodelle der Kosmologie und Elementarteilchenphysik werden von der überwiegenden Mehrheit der wissenschaftlichen Community als erfolgreiche Annäherungen an die wissenschaftliche Wahrheit über die Makro- und Mikrowelt betrachtet. Ungeachtet zahlreicher offener Fragen haben neuere Forschungsergebnisse, wie z.B. die Analyse des Mikrowellenbackgrounds durch die Planck-Mission (2013) oder die Entdeckung des Higgs-Bosons (2012), weitere Bestätigungen für die Richtigkeit der Standardmodelle erbracht. Dennoch mehren sich in letzter Zeit die Stimmen durchaus profilierter Wissenschaftler, die grundsätzliche Kritik an den etablierten Modellen äußern und sogar von einem Irrweg sprechen, auf dem sich die Forschung seit längerem befinde. Interessant sind in diesem Zusammenhang besonders die Argumente von Alexander Unzicker, der den etablierten Modellen mangelnde Einfachheit vorwirft und daraus auf ihre fehlende Plausibilität schließt.

Der Autor stellt dankenswerter Weise die Redeversion seines Vortrags als pdf-Datei zur Verfügung.

Die Anregungen aus dem Vortrag zur heuristischen Rolle des Prinzips Einfachheit wurden in der anschließenden lebhaften und auch kontroversen  Diskussion kommentiert. Einigkeit herrschte darüber, dass letzten Endes die in Experimenten festgestellten Tatsachen darüber entscheiden, ob eine einfache Theorie oder ein einfaches Modell die Wirklichkeit adäquat erfasst. Beispiele für die hemmende Rolle vereinfachter Annahmen für den Erkenntnisgewinn wurden angeführt. Die Unterscheidung zwischen philosophischem Reduktionismus  und wissenschaftlich berechtigten Reduktionen (Sommerfeld, E., Hörz, H. und Krause, W. (2010) (Hrsgb.): Einfachheit als Wirk-, Erkenntnis- und Gestaltungsprinzip. Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät, Band 108 J. 2010), auf die hingewiesen wurde, macht ja deutlich, dass bei der Erkenntnisgewinnung sehr genau darauf zu achten ist, ob die in Modellen und Theorien vorgenommenen notwendigen Vereinfachungen unter den genannten Bedingungen wissenschaftlich berechtigt sind oder nicht. So spielten Bedingungen und Voraussetzungen für Reduktionen in der Diskussion eine große Rolle. Über Einfachheit als Erkenntnis- und Gestaltungsprinzip gab es keine gegensätzlichen Auffassungen. Die Paare Elementarität und Komplexität, Einfachheit und Kompliziertheit in ihren verschiedenen Beziehungen waren Gegenstand mehrerer Beiträge. Erkenntnisgewinn ist nur zu erreichen, wenn komplexe Systeme mit Modellen und Theorien erfasst werden, bei denen keine zusätzlichen Annahmen die Erklärung verkomplizieren. Entgegen der Kritik von Unzicker, der das Standardmodell der Elementarteilchenphysik als zu kompliziert kritisiert, wurde in der Diskussion auf den langwierigen und notwendigen Klärungsprozess in der wissenschaftlichen Erkenntnis verwiesen, in dem einfachere Grundstrukturen durch Experimente und entsprechende Modelle und Theorien erst gefunden werden. So kann sich auch das Standardmodell als gegenwärtig effektive Theorie später als Grenzfall einer umfassenderen Theorie erweisen, die nur unter bestimmten Bedingungen gültig ist.

Das Hauptproblem in der anregenden Debatte war die Frage nach einem in Natur und Gesellschaft existierenden Wirkprinzip Einfachheit. Dabei spielten folgende Argumente gegen eine ontologische Fundierung des Prinzips Einfachheit eine Rolle: Objektiv-reale Prozesse sind nicht einfach. In der Evolution bilden sich immer komplexere Systeme heraus. Wir Menschen vereinfachen die Komplexität, um zu Erkenntnissen zu gelangen. Einfachheit ist in erster Linie ein Erkenntnisprinzip.

Dagegen wurde ins Feld geführt, dass einfache Theorien, gestützt durch Experimente und erfolgreich in der Verwertung bei der Gestaltung der Wirklichkeit, nicht einfach als subjektive Konstruktionen betrachtet werden können, sondern eine ontologische Entsprechung aufweisen. Insofern erweisen sich komplexe Systeme in ihren wesentlichen Grundstrukturen als einfach, wenn man sie nicht  für die Komplexität an der Zahl der Strukturelemente, der Beziehungen zwischen den Elementen und den Energie- und Informationsflüssen misst, sondern die objektiven Systemgesetze als wesentliche, d.h. den Charakter der Erscheinungen bestimmende, und reproduzierbare, d.h. unter bestimmten Bedingungen wiederholbare, Beziehungen findet. Sie sind keine subjektiven Konstruktionen, sondern bestimmen objektiv das Verhalten der Systeme. Verwiesen wurde auch auf die Möglichkeit, nach Urkräften und Urelementen zu suchen. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass Theorien und Modelle mit einfachen und wesentlichen Systembeziehungen in einem Transformationsprozess, der nicht einfach ist, bis zu experimentell überprüfbaren Folgerungen zu führen sind.

Die Diskussion macht deutlich, dass weiteres Material heranzuziehen ist, um von den bisherigen Beschreibungen zu Definitionen von Einfachheit zu kommen. Das wird schon mit dem nächsten Vortrag von Heidemarie Salevsky zum Thema „Das Sensitivitätsmodell Prof. Vester – ein einfaches Programm zur Lösung komplexer Probleme (mit Anwendungsbeispielen aus der Translatologie)“ am 22.10.2015 geschehen.

(Herbert Hörz)