Wissenschaftliche Sitzungen der Klassen der Leibniz-Sozietät im Jahre 2003

Nachfolgend werden die im Jahr 2003 stattgefundenen wissenschaftlichen Sitzungen der beiden Klassen der Leibniz-Sozietät zusammen mit den Kurzreferaten und Angaben zu den C.V. der Vortragenden aufgelistet.
Die Namen der Autoren sind mit dem Autorenverzeichnis verlinkt, weiterhin sind Links zu den Publikationen der Leibniz-Sozietät angegeben, falls die Vorträge bereits publiziert wurden.

16. Januar 2003

Winfried Hacker
Design Problem Solving – psychologische Unterstützungsmöglichkeiten

Klasse Naturwissenschaften
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte; Lessing-Saal

Prof. Hacker (68) ist Psychologe und Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 2002.

 

Hans-Otto Dill
“Hätte Aristoteles mehr gekocht, hätte er mehr geschrieben“. Arbeit vs. Muße im dichterischphilosophischen Werk der mexikanischen Nonne Sor Juana Inés de la Cruz (1651-1695)

Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte; Hoecker-Saal

Prof. Dill (67) ist Romanist – Spezialist für lateinamerikanische Sprachen und Literatur – sowie Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 1995. 1982-1991 hatte er eine entsprechende Professur an der Humboldt-Universität inne, 1989-90 eine Gastprofessur an der Georg-August-Universität Göt-tingen und anschließend eine ebensolche an der Universität von Sao Paulo, Brasilien. Zu Gast-vorlesungsreihen und Kurzdozenturen weilte er an Universitäten in Mexiko, Peru und Argenti-nien. Als Emeritus nimmt er seit 2002 Lehraufträge an der Universität Hamburg wahr. Er hat ca. 200 Abhandlungen, meist in spanischer Sprache, in wissenschaftlichen Zeitschriften Deutsch-lands, Frankreichs, Spaniens, Italiens, Tschechiens und vieler Länder Lateinamerikas sowie 10 Monographien oder Sammelbände publiziert bzw. (mit)herausgegeben.

In dem Referat wird zunächst die Kurzvita der Barock-Autorin vorgestellt, einer mexikanischen Nonne der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Heraus ragen ihre autodidaktisch erworbene humanistische Universalbildung, ihre kompliziert-gekonnte Barockdichtung, ihr Emanzipations-streben als eine der ersten Feministinnen der Weltgeschichte sowie ihr naturwissenschaftlicher Rationalismus, der sie als Frühaufklärerin, sogar als Vorläuferin der Sensualisten der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts ausweist.
Sor Juana hat historisch sehr früh theoretisch wie poetisch die Verhältnisse von körperlicher vs. geistiger Arbeit, von Arbeit vs. Muße und von Arbeit vs. Genuß problematisiert, womit sie Pro-bleme heutiger kommerzialisierter Freizeit- und Spaßgesellschaft vorwegnahm.

 

20. Februar 2003

Gottfried Anger
Zur Leistungsfähigkeit der messenden Physik in den Naturwissenschaften, der Technik und der Medizin

Klasse Naturwissenschaften
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte; Lessing-Saal

Prof. Anger studierte Mathematik und Elektronik an der TU Dresden und arbeitete 1952 bis 1962 als Assistent und Oberassistent an deren Institut für Reine Mathematik. Die unten genannten Ideen – niedergelegt 1957 in der Doktorarbeit – brachten ihm 1958 ein Stipendium der Universität Paris (Sorbonne) ein. Weitere Studienaufenthalte führten ihn nach Budapest, Szeged, Moskau und Novosibirsk. 1963 – 1972 war er Forschungsgruppenleiter am Institut für Reine Mathematik der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1972 bis zur Emeritierung 1993 ordentli¬cher Professor für Mathematik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Der Vortragende analysiert die Leistungsfähigkeit von Informationen bezüglich komplexer Systeme der Natur. Solche Fragen sind von grundsätzlicher Bedeutung besonders in der medizini-schen Diagnostik, da es hier beim Gebrauch oft zu schwacher Messwerte zu Fehldiagnosen kommen kann. Diese Ideen bestimmten seine weiteren Forschungen auf dem Gebiet der mathe-matischen Physik. Während für spezielle Teilfragen weitreichende Ergebnisse möglich sind, gilt für die realen Systeme der Natur stets praxis cum theoria. Wesentlich günstiger sieht es in den Ingenieurwissenschaften aus – hier liegen zusätzliche physikalische Informationen vor. Die Aus-sagen des Vortrages beruhen auf der Analyse der Leistungsfähigkeit mathematischer Modelle und praktischer Erfahrungen.

 

Konrad Meisig:
„Hinduismus im Exil“

Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte; Hoecker-Saal

Prof. Meisig (49) ist Indologe und Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 2001. Nach dem Studium der Indologie, Sinologie sowie der Religionsgeschichte in Freiburg i.Br. und Münster, der Promotion (1985) und der Habilitation (1994) wurde er 1997 zum Universitätsprofessor und zum Leiter des Instituts für Indo¬lo¬gie der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz ernannt. Er leitet den Interdisziplinären Arbeitskreis Ostasien und Südostasien der Universität Mainz und ist stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Religionsgeschichtlichen Studiengesellschaft, Münster. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Religions und Literaturgeschichte Indo-asiens: Buddhismuskunde, insbesondere der Vergleich der indischen, chinesischen und tibetischen Überlieferungen, moderne Hindi-Literatur, Sprache und Literatur der Singhalesen.

In den vergangenen Jahren ist der Hinduismus ein fester Bestandteil des kulturellen Lebens in Deutschland geworden. Die südasiatische Religion ist in der deutschen Öffentlichkeit präsent und sorgt für ein wachsendes Interesse. Diesem Informationsbedürfnis können sich auch Presse und Medien nicht entziehen. In vorher nicht gekanntem Ausmaß erscheinen Nachrichtenmeldungen und Feuilleton-Artikel in regionalen und überregionalen Zeitungen. Auch die christlichen Kirchen beobachten die ihnen fremde Religion mit Aufmerksamkeit.
Der Grund für die neue Präsenz des Hinduismus sind in erster Linie die religiösen Aktivitäten der ca. 60 000 tamilischen Bürgerkriegsflüchtlinge aus Sri Lanka. Viele von ihnen sind inzwischen als Asylanten anerkannt, haben in Deutschland Arbeit gefunden und sich mit ihren Familien in der neuen Heimat eingerichtet. Je länger sie fern ihrer alten Heimat leben, desto größer wird das Verlangen, die religiösen Wurzeln im Exil weiterzupflegen, um die angestammte Religion, eben den Hinduismus, nicht zu vergessen, vielmehr diese Religion an die zweite Auswanderergenera¬tion weiterzugeben.
Der Vortrag unterscheidet den Exil-Hinduismus von traditionellem Hinduismus, Neo-Hinduismus, Kommerz-Hinduismus und politischem Hinduismus. An drei Beispielen werden mit Hilfe von Lichtbildern Exil-Hindutempel in Hamm (Nordrhein-Westfalen), aber auch auf Mauritius im Indischen Ozean mit traditionellen Hindu-Tempeln in Südindien verglichen.

Wissenschaftliche Mitteilung
Klaus Mylius
Das Projekt “Materialismus und Jinismus.

 

20. März 2003

Jürgen Schmelzer:
„Phasengleichgewichte in komplexen fluiden Gemischen von Nichtelektrolyten – Experimentelle Bestimmung, Modellierung und Vorausberechnung

Klasse Naturwissenschaften
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte; Lessing-Saal

Prof. Schmelzer (56) ist Physikochemiker und Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 2002. Nach Stu-dium und Assistenz an der Universität Leipzig ging er 1983 als Gruppenleiter in die Abteilung Analytik der Leuna-Werke, wo er 1985 eine Dissertation zur Promotion B vorlegte. Seit 1993 hat er eine Professur für Physikalische Chemie an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Dres-den (FH) inne. Fast 45 Jahre schon widmet er sich der Untersuchung von Phasengleichgewichten und anderen mischphasenthermodynamischen Eigenschaften als Grundlage für entsprechende Trennprozesse (häufig im Rahmen der Vertragsforschung mit Betrieben der chemischen Industrie oder des Chemieanlagenbaues). Die Ergebnisse sind in 67 wissenschaftlichen Publikationen ver-öffentlicht. Mehr als 20jährige Zusammenarbeit verbindet ihn mit der Universität St. Petersburg; enge Kontakte hält er zur Dänischen Technischen Hochschule Lyngby und zur Chemisch-Technologischen Hochschule Prag.

Systeme aus stark miteinander assoziierenden Komponenten – wie Phenole und Wasser – zu trennen, ist nicht einfach, und schon gar nicht einfach vorauszuberechnen. In der Praxis handelt es sich oft um ternäre Systeme aus Phenolen, Kohlenwasserstoffen und Wasser – teilweise mit drei flüssigen Phasen. Hier lassen sich die Phasengleichgewichte mit den herkömmlichen Methoden, den Aktivitätskoeffizienten-Modellen, nicht mehr berechnen. Es mussten Methoden entwickelt werden, die das Assoziationsverhalten explizit berücksichtigen.
Da obendrein zu den binären und ternären Systemen – besonders für Kresole – nur eine unzu-reichende Datenbasis existierte, wurden umfangreiche Messungen in solchen Systemen durch-geführt. So wurden die Flüssig-Flüssig-Gleichgewichte in 12 ternären Systemen u.a. durch photometrische Trübungstitration bestimmt; Flüssigkeit-Dampf-Gleichgewichte in sieben ternären Systemen gemessen.
Bei der Vorausberechnung der Flüssig-Flüssig-(Flüssig-) und Flüssigkeit-Dampf-Gleichgewichte in den ternären Systemen liefert das verwendete Assoziationsmodell qualitativ und quantitativ bessere Ergebnisse als die verwendeten Aktivitätskoeffizientenmodelle.

 

Jürgen Kocka:
„Krisen und Chancen der Sozialgeschichte“

Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte; Hoecker-Saal

Prof. Kocka ist Historiker mit Lehrstuhl an der Freien Universität Berlin und Präsident des Wis-senschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB). An der Entwicklung der Sozialgeschichte in der Bundesrepublik hat er seit den 1960er Jahren kräftig mitgewirkt, vor allem während seiner Lehrtätigkeit an der Universität Bielefeld und an der FU Berlin. Er war zu wissenschaftlichen Gastaufenthalten in vielen Ländern, insbesondere in USA, Israel und Frankreich.

In dem Vortrag wird es um den Stand und die Perspektiven der Sozialgeschichte heute gehen – in Deutschland und international. Die Sozialgeschichte befindet sich einerseits in der Krise. Ande-rerseits blickt sie auf eine Erfolgsgeschichte von drei Jahrzehnten zurück. Der kulturhistorische Trend des letzten Jahrzehnts hat seinen Zenit überwunden, das Interesse an einer erneuerten Sozi-algeschichte nimmt vielen Orts wieder zu. Vielleicht steht uns ja ein neuer “social turn” bevor.

 

24. April 2003

Gisela Jakobasch
Gesundheitsfördernde Effekte von Flavonoiden in der Ernährung“

Klasse Naturwissenschaften
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte; Lessing-Saal

Frau Prof. Jacobasch (68) ist Biochemikerin und Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 1997. 35 Jahre lang war sie am Institut für Biochemie der Charite an der Humboldt-Universität zu Berlin tätig. 1995 übernahm sie am Deutschen Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke die Lei-tung der Abteilung Präventiv-Medizinische Lebensmittelforschung.

In dieser Zeit beschäftigte sie sich vorrangig mit der Problematik von Wechselwirkungen zwi¬schen der Darm-Mikroflora und der Dickdarmschleimhaut, insbesondere solcher, die die Ent¬wicklung chronisch entzündlicher Darmerkrankungen und von Karzinomen beeinflussen. Fußend auf diesen Kenntnissen, erarbeitete sie präventiv wirksame Ernährungsstrategien, um das Risiko dieser Erkrankungen zu senken. Eine wichtige Rolle spielen dabei Flavonoide, ein Komplex von phenolischen Verbindungen, der nur in Früchten und Gemüse synthetisiert wird. Im Vortrag wird ausgeführt, dass ein Teil dieser Verbindungen, vor allem Quercetinglykoside, sowohl bakteriell vermittelte als auch systemische Effekte auf den Organismus des Menschen ausüben, die gesund-heitsfördernd sind. Dazu zählen präbiotische, antioxidative, immunprotektive und Barrieren-schutzeffekte im Dickdarm. Systemisch werden antientzündliche, antikanzerogene und antiarthe-rosklerotische Wirkungen vermittelt. Eine Optimierung dieser Effekte setzt die Kenntnis der Pharmakokinetik und deren Berücksichtigung bei der Auswahl der Flavonoidverbindungen, ihrer Verabreichungsform und Dosierung voraus.

 

Helmut Steiner
„Welche Art Kapitalismus entwickelt sich in den Transformationsgesellschaften Ostmittel-und Osteuropas?“

Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte; Hoecker-Saal

Prof. Steiner (67) ist Soziologe und Wissenschaftshistoriker sowie Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 1994. Er war bis zur Schließung der Akademie der Wissenschaften der DDR 1991 in ihr als Soziologe beschäftigt. Seit 1992 hat er sich mit der Analyse der Entwicklung in den ost- und süd-osteuropäischen Ländern beschäftigt, an wissenschaftlichen Veranstaltungen teilgenommen und sowohl in Deutschland als auch in Polen, Rußland, Tschechien und Ungarn darüber publiziert.

Im Mittelpunkt des Vortrags stehen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der sozialistischen Gesellschaftsentwicklung jener ost- und südosteuropäischen Länder, die Auflösung der sozialisti-schen Ordnung und die Umbrüche in den Jahren 1989/91, die Privatisierung des ökonomischen und öffentlichen Eigentums, die Herausbildung kapitalistischer Unternehmen und Mittelschich¬ten, der mehrstufige Elitenwechsel, die Etablierung neuer politischer Institutionen sowie die da¬mit verbundene empirische und theoretische Analyse durch die Sozialwissenschaften.

 

15. Mai 2003

Erika Horn
Software Engineering und Modellierung

Klasse Naturwissenschaften
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte; Lessing-Saal

Frau Prof. Horn (62) ist Informatikerin und Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 2001. Ihr Rüstzeug erwarb sie in den sechziger Jahren mit dem Studium der Regelungs- und Steuerungstechnik im heutigen St. Petersburg. Seitdem sucht sie nach Modellen des statischen und dynamischen Verhaltens großer, heterogener, verteilter Softwaresysteme.
Nach zwölf Praxisjahren setzte sie ihre Arbeit 1983 als Hochschuldozentin für Softwaretechnologie an der Technischen Universität Dresden, ab 1993 als Professorin für Informatik an der Universität Potsdam fort. Hier geht es ihr vor allem um eine Theorie der Softwarearchitektur für verteilte Softwaresysteme sowie – in Analogie zu anderen Ingenieurdisziplinen – um die Grundlagen einer Lehre von den Softwarebauelementen.

Im Vortrag wird die aus der Informatik hervorgegangene Ingenieurwissenschaft “Software Engineering” mit ihren Gegenständen und Unterschieden zu anderen Technischen Wissenschaften betrachtet. Danach erfolgt eine Auseinandersetzung mit der Rolle von Modellen in der Wissenschaft. Es werden die besonderen Eigenschaften und die Universalität informatischer Modelle und insbesondere objektorientierter Modelle herausgearbeitet. Der Modellwelt, die bei der Entwicklung von Softwareprodukten verwendet wird, ist der letzte Teil des Vortrages gewidmet.
Punkte zur interdisziplinären Diskussion werden an verschiedenen Stellen des Vortrages benannt.

 

Christa Uhlig
„Reformpädagogik im Kontext sozialer Bewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts”

Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte; Hoecker-Saal

Frau Prof. Uhlig (56) ist Bildungshistorikerin und Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 1997. Vor 1990 hatte sie Professuren an der Pädagogischen Hochschule Leipzig und an der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften Berlin inne; danach war sie freiberufliche Dozentin, Mitarbeiterin in verschiedenen Forschungsprojekten, z. B. in einem DFG-Projekt „Reformpädagogik und Arbeiterbewegung“ an der Universität Paderborn sowie Privatdozentin an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Reformpädagogik, Bildungspolitik und Pädagogik der Arbeiterbewegung sowie Bildungsgeschichte der DDR. Sie ist Mitherausgeberin des „Jahrbuchs für Pädagogik“ und kann auf zahlreiche Publikationen verweisen.

Die an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstandene „Reformpädagogik“ ist nach wie vor populär. Sie assoziiert kindgemäßes, natürliches, lustbetontes, lebensnahes, soziales, ganzheitliches Lernen ohne Schulstress, Leistungsdruck und schulische Gewaltszenarien. Häufig gilt sie, mitunter ohne Rücksicht auf ihre tatsächliche historische Gestalt, ihre begriffliche Ambivalenz und inhaltliche Widersprüchlichkeit, als Code für pädagogische Neuerungen und für eine „gute“ Schule schlechthin. Dies wird im Vortrag zum Anlass genommen, nach der historischen und aktuellen Bedeutung jener Phänomene zu fragen, die unter dem Begriff „Reformpädagogik“ in die Geschichte eingegangen sind, den Forschungsstand zu resümieren und über die Erweiterung von Forschungsperspektiven nachzudenken. Erörtert werden u.a. Fragen nach Beziehungen der Reformpädagogik zu politischen und sozialen Bewegungen im frühen 20. Jahrhundert, nach ihrer Bedeutung im Kontext lebensreformerischer Tendenzen, nach ihrem Anteil an der Entstehung neuer erzieherischer Kulturen sowie nach Ursachen für die Nachhaltigkeit ihrer Wirkung in der Pädagogik der Gegenwart.

 

Juni 2003

Wolfgang Böhme:
„Nachweis von speziellen Zusammenhängen zwischen Teilsystemen von komplexen dynamischen Systemen – Beispiel: Southern Oscillation und Witterung in Mitteleuropa (Ordnungsfaktor: Paralleles Auftreten von Analogieabständen)“

Erika Horn:
„Software Engineering und Modellierung“

Klasse Naturwissenschaften
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte; Lessing-Saal

 

 

18. September 2003

Hans-Heinrich Müller:
„Franz Carl Achard – Physiker und Chemiker der friderizianischen Akademie der Wissenschaften”

Klasse Naturwissenschaften
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte; Lessing-Saal

 

Malcolm Sylvers:
„Klassen und Politik – Das Beispiel USA”

Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte; Hoecker-Saal

 

16. Oktober 2003

Egon Fanghänel:
„Aceton – Ausgangspunkt für neue Heterocyclensynthesen; Chemie der 2-Aryl-3,5-dimethyl-1,1-dioxo-1,2-thiazine

Klasse Naturwissenschaften
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte; Lessing-Saal

Jörg Rösler:
„Die Rolle der „New Economies“ in Konjunktur und Krise. Zur wirtschaftshistorischen Analyse anhand von Eisenbahnwesen, Automobilbau und Informationstechnologie

Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte; Hoecker-Saal

 

19. November 2003

Sigmund Jähn:
„25 Jahre deutsche Beiträge zur bemannten Raumfahrt“

Klasse Naturwissenschaften
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte; Lessing-Saal

Dr. Sigmund Jähn war (vom 26. August bis 3. September 1976) der erste Deutsche im Weltraum auf den sowjetischen Raumfahrzeugen SOJUS 31, SALUT 6 und SOJUS 29. Nach der Ausbildung zum Jagdflieger der Nationalen Volksarmee der DDR (NVA) und dem Besuch der Militärakademie der sowjetischen Luftstreitkräfte bei Moskau arbeitete er von 1970 bis 1976 als Inspekteur für Flugsicherheit im Kommando Luftstreitkräfte/Luftverteidigung der NVA, bis er im Kosmonauten-Ausbildungszentrum bei Moskau zum Raumfahrer ausgebildet wurde.
1985 wurde er am Zentralinstitut für Physik der Erde der Akademie der Wissenschaften der DDR in Potsdam zum Dr. rer. nat. promoviert, 1986 zum Generalmajor ernannt. Seine Kenntnisse und Kontakte stellt er seit 1990 für die Zusammenarbeit des russischen Kosmonauten-Ausbildungszentrums bei Moskau mit europäischen Partnern zur Verfügung: bis 1993 für das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (Köln) und seitdem für die Europäische Weltraum-Agentur (ESA).

 

Joachim Heidrich
Gewalt im Lande Gandhis. Politische Demokratie, kultureller Nationalismus und strukturelle Gewalt im postkolonialen Indien

Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte; Hoecker-Saal

Prof. Heidrich (73) ist Historiker, Ethnologe und Indologe. Nach Studium und Promotion (1959) arbeitete er am Institut für Orientforschung der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, unterbrochen durch einen zweijährigen Forschungsaufenthalt an der Universität Madras in Südindien und durch mehr als ein Jahrzehnt diplomatische Tätigkeit in Südasien. An der Akademie der Wissenschaften der DDR wurde er auch zum zum Professor für Moderne Geschichte Südasiens ernannt. Ab 1992 war er bis zum Eintritt in den Ruhestand Mitarbeiter am Forschungsschwerpunkt Moderner Orient in Berlin. Seine Arbeitsgebiete sind: Soziale und intellektuelle Geschichte des modernen Südasien; soziale und politische Aspekte der Entwicklungsländerproblematik; Globalisierung.

Indien unterscheidet sich von anderen postkolonialen Gesellschaften durch eine stabile bürgerlich-liberale Demokratie und ein funktionierendes parlamentarisches System nach westlichem Muster in einem als säkular definierten Staatswesen. Seine Sozialordnung wird jedoch im Alltag erheblich von traditionellen Institutionen wie Kastenhierarchie und patriarchalischer Großfamilie geprägt, deren Folgen soziale wie Geschlechterdiskriminierung sind. Konstitutionell verankerte Ziele – wie Chancengleichheit für alle Staatsbürger und eine egalitäre Gesellschaft – wurden bisher nicht erreicht; die Erwartung, die Lebenslage der Bevölkerungsmehrheit werde sich wesentlich verbessern, blieb unerfüllt. Andererseits fand eine beachtliche Entwicklung statt, vor allem im materiell-technischen Bereich. Zugleich traten zuvor politisch weitgehend passive Schichten der Bevölkerung mit ihren Anliegen hervor. Mit dem Verschwinden des antikolonialen Nationalismus als Integrationsfaktor einer ethnisch, sprachlich und religiös extrem heterogenen Bevölkerung hat sich der Hindunationalismus als ein zunehmend dominierender Trend im politischen Leben etabliert. Er basiert auf der Re-Interpretation der Kultur des Landes als von Anbeginn “hinduistisch” und identifiziert anhand religiös- kultureller Kriterien die Lebensweise der Hindumehrheit mit der Kultur des Landes. Konsequenzen dieser Entwicklung sind gewaltsame “kommunalistische” Konflikte, die die Grundlagen der indischen Demokratie gefährden.

 

18. Dezember 2003

Bernd Ondruschka
Nachhaltigkeit in der Chemie – Worthülse oder mehr?

Klasse Naturwissenschaften
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte; Lessing-Saal

Prof. Ondruschka (56) ist Chemiker und Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 2003. Nach dem Studium in Halle und Leipzig, der Promotion (1978) und der Habilitation (1992) wurde er Privatdozent für Technische Chemie an der Universität Leipzig und 1997 Professor an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, wo er das Institut für Technische Chemie und Umweltchemie leitet. Er kann auf mehr als 150 Veröffentlichungen, Vorträge, Poster und mehr als 30 Patente verweisen. Seine aktuellen Forschungsgebiete sind alternative Reaktionsstimuli, ionische Flüssigkeiten, nachwachsende Rohstoffe (Biodiesel) sowie heterogene Katalyse (Selektiv- und Totaloxidation).

Der Begriff der Nachhaltigkeit stammt aus der Fortwirtschaft und wurde vermutlich erstmalig von Carlowitz, Superintendent der sächsischen Silberbergwerke, um 1713 gebraucht. Mit der Nachhaltigkeit der Wälder (Es darf den Wäldern nicht mehr Holz entnommen werden als bei entsprechender Pflege auch wieder nachwächst) waren wirtschaftliche (Grubenholz) und soziale Vorteile (Arbeitsplätze) verbunden.
Nachhaltigkeit heißt heute – gemäss Brundtland-Bericht (1987) –, für eine weltumspannende Entwicklung einstehen, welche den Bedürfnissen der gegenwärtig lebenden Menschen entspricht, ohne die Möglichkeiten zukünftiger Generationen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu gefährden.
Über die Konferenzen in Rio de Janeiro (1992) bis Johannesburg (2002) wurde das Prinzip der Nachhaltigkeit als zentrale Zukunftsaufgabe für das 21. Jahrhundert festgeschrieben und in der Agenda 21 mit herausfordernden Beispielen versehen.
Am Ende des Jahres der Chemie soll der Vortrag beispielhaft aufzeigen, wie sich die Chemie in Forschung und Entwicklung gleichermassen wie in der Industrie mit der Herausforderung zu Nachhaltigkeit beschäftigt. Am Beispiel eines neuen Praktikumsbuches, welches durch die Deutsche Bundesstiftung Umwelt (Osnabrück) initiiert und gefördert wird, wird gezeigt, in welcher Weise bereits im Alltag von Schulen bis Hochschulen und Universitäten im Sinn der Nachhaltigkeit ausgebildet werden kann.

Kurzvortrag
Siegfried Wollgast
Würdigung von Johann Gottfried Herder

Helmut Bock
Privatisierte Waffengewalt und “neue Kriege” – Warnschriften am Anfang des 21. Jahrhunderts

Klasse Sozial- und Geisteswissenschaften
Staatsbibliothek Unter den Linden 8, Berlin-Mitte; Hoecker-Saal

Prof. Bock (75) ist Historiker und Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 1994. Bis 1991 tätig an historischen Instituten der Akademie der Wissenschaften der DDR, 1992 – 1993 Einzelförderung durch Bun¬desministerien. Autor und Herausgeber von 25 Büchern und Broschüren. Jüngste Publikationen: Freiheit, Gleichheit – und kein Ende. Streit um Menschen¬rechte, Berlin 2000; Wir haben erst den Anfang gesehen. Selbstdokumentation eines DDR-Historikers, Berlin 2002; Die fatale Alternative. Von Krieg und Frieden, Leipzig 2002; Entartet die Zivilisation? Privatisierte Waffengewalt und neue Kriege (Pankower Vorträge), Berlin 2003.

Während im Vorjahr 2002 alle Welt auf den Aufmarsch der USA gegen Irak starrte, geschahen 44 kriegerische Konflikte, in denen nach vorsichtigen Berechnungen über 7 Millionen Menschen getötet und weit mehr verwundet oder aus ihren Wohnstätten vertrieben wurden – in der überwiegenden Mehrheit unbewaffnete Zivilisten.
Afrika, Asien, der Orient und Lateinamerika sind Schauplätze des Staatsverfalls, der Privatisierung von Waffengewalt, der Verheerung durch marodierende Söldnertruppen und Banden. Nicht genug, dass politische, ethnische und religiöse Feindschaften zu Massenmord und Massenvertreibung, zu schwersten Menschenrechtsverletzungen führen. Sie mutieren zu Kriegen mit einer immanenten “Kriegsökonomie”, bei der Waffengewalt zum terroristischen Mittel der Regulierung von Märkten, sogar zur Ware und Dienstleistung wird. Die Zusammenarbeit von “Warlords” des Südens mit Söldnerfirmen und Kriegsunternehmern der Länder des Nordens ermöglicht, dass Waffengewalt auf Kosten der Zivilbevölkerungen zur permanenten Bereicherung, zur kriegerischen Lebensweise auf Dauer tendiert.
Vor diesen Tatsachen versagen die traditionellen Begriffe “Krieg” und Bürgerkrieg”. Menschenrechtler, Politologen und Trendforscher interpretieren die inkriminierten Vorgänge als “Neue Kriege”. Selbst in entwickelten Industrieländern wirkt die Tendenz der Auflösung des staatlichen Gewaltmonopols: eine Entstaatlichung, Privatisierung und Kommerzialisierung der Gewalt.
Im Gegensatz zur US-amerikanischen Hegemonialpolitik mit völkerrechtswidrigen “Präventivkriegen” steht die drängende Frage: “Was lässt sich für die Sicherheit der Menschen in Europa und Afrika, Amerika und Asien tun, in einem Jahrhundert, in dem die definierbaren Kriege aus der Mode kommen, die Risiken privatisierter Gewalt aber wachsen” (Erhard Eppler).